- „Oh doch“, antwortete Aloys, „ich glaube Ihnen, Frau Rosenthaler. Warum sollte das nicht wahr sein?“
- „Sie sind ein guter Mensch, Herr Krampf. Wissen Sie, was Mensch in Jiddisch heißt?“
- „Nein.“
- „In Jiddisch heißt Mensch „guter Mann“. Also sind Sie in meinen Augen ein guter Mann.“
- „Dann heißt guter Mensch guter guter Mann.“
- „Und Humor besitzen Sie auch.“ Sie lachte.
Dann seufzte sie gedehnt, führte die Tasse zu ihren Lippen und bevor sie ihren Tee auf den Tisch abstellte, sagte sie entschlossen: „Fast fühle ich mich verpflichtet, Ihnen ein bisschen von meinem Leben zu erzählen.“
Er schwieg.
- „Ich hatte eine furchtbare Kindheit“, begann sie zu erzählen. Sie hatte den Diamanten am Ende ihrer Perlenkette in die Hand genommen und streichelte ihn mit den Fingerkuppen. „Mein Vater war Bänker und meine Mutter Gräfin. Nach meinem Biographen jedenfalls. Die Biographie ist noch nicht veröffentlicht worden. Nach eigenem Erleben weiß ich nicht wer meine Eltern waren. Ich weiß nichts mehr von meiner Kindheit. Von meinem Leben weiß ich nur, was der Biograph gesponnen hat. Ich habe viermal geheiratet. Mein erster Mann starb an einer Überdosis Zyankali, einem Überbleibsel aus der Nazi-Zeit. Der Fall wurde als Suizid bewertet. Gustav hieß er. Der zweite … Eine undichte Stelle am Benzintank seines Autos. An die Explosion kann ich mich auch nicht erinnern. Ich habe einen tiefen Schlaf. Seitdem fahre ich nur Modelle eines deutschen Fabrikates. Der Vorname ... Mark oder Markus. Ein feiner Kerl.“
Sie seufzte, trank einen Schluck Tee und erzählte weiter: „Der dritte war Jäger. Das hat die Sache vereinfacht. Zu früher Stunde im grünen Wald. Bing! Und Adieu Morris. Der Vierte war zäh, zäh wie eine Zecke und kräftig wie ein Buchenstamm. Eine Herausforderung. Jedenfalls ist er musterhaft gestorben, wie ich es gemacht hätte, wenn ich vor gehabt hätte, ihn umzubringen. Eine kleine Kreuzfahrt. Ein großes Fass Bier. Er liebte Bier. Puff! Und Adieu Philipp. Und heute? Heute bin ich furchtbar allein, verlassen und verstoßen.“
Sie weinte.
- „Ich will wieder von einem Mann begehrt werden, wie jede Frau. Jede Frau hat es verdient, begehrt zu werden“, sagte sie, während sie die Tränen an ihren Augen mit einem weißen Leinentuch abtupfte.
- „Ja, jede Frau!“, bestätigte Aloys Krampf.
- „Waren Sie schon mit einer Frau zusammen, Herr Krampf?“
- „Ja, mit meiner Mutter.“
- „Aber ich meine, abgesehen von Ihrer Mutter?“
- „Ach, Sie meinen eine Liebesbeziehung wie Sie, Frau Rosenthaler, mit Ihren vier Männern?“
- „Ja, das meine ich.“
- „Nein. So was habe ich nie gehabt.“
- „Und vielleicht eine Beziehung einer anderen Art ...“
- „Welcher Art?“
- „Also … Eine körperliche Annäherung?“
- „Sie meinen mit Sex?“
- „Ja.“
- „Nein, Frau Rosenthaler, so was auch nicht.“
- „Aber ...“
- „Aber?“
- „Ich habe die Orchideen.“
Sie schwieg. Er trank. Er schwieg. Sie trank.
- „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Aloys nenne?“, fragte sie nach einer Weile.
- „Aber, Frau Rosenthaler, ich heiße Aloys. Sie müssen mich Aloys nennen.“
Affen-Knabenkraut … Und rot noch dazu!
War es Liebe? Er hatte ihr zum zweiten Mal eine Blume geschenkt. Ein Affen-Knabenkraut. Und rot noch dazu!
Seitdem hatte sie die fachkundige Literatur über diese Art von Orchideen eingehend studiert. Behalten hatte sie das Bild eines permanent weiter wachsenden Sprosses, den sie geistig und prompt in die Versinnbildlichung seiner Liebe zu ihr verwandelt hatte. Er liebte sie also.
Ihr Herz schlug Purzelbäume. Im Sekundentakt. Sie fühlte, träumte, bebte, lebte und dachte wie das siebzehnjährige Mädchen, das sie einst gewesen war. Vor 80 Jahren. Und noch mehr: Wenn sie in den Spiegel sah, begegnete ihr das vertraute Gesicht jenes ängstlichen, dennoch wild entschlossenen Wesens aus dem Jahr 1953. Großartig. Die blonden Strähnen. Die leuchtenden Augen. Wie Glasperlen. Die Stupsnase. Die Sommersprossen. Kurzum: Sie fühlte sich wie Gretchen vor dem großen Treffen mit Faust.
In der Nacht – sie konnte es nicht anders – verließ sie heimlich ihr Schlafzimmer und begab sich in das Reich des heiß Begehrten. Sie wollte fühlen was er fühlte, riechen was er roch, sehen was er sah. In Reih und Glied standen seine Schützlinge auf der Fensterbank ihres Lustschlosses, das sie „Le petit Trianon“ getauft hatte, in leuchtendem Gelb, zartem Orange, verführerischem Rot, unschuldigem Weiß. Sie fragte sich erneut, ob die Reihenfolge etwas zu bedeuten hatte, zumal vor jedem Topf ein Schildchen stand, auf das eine zarte Hand - seine Hand! - weibliche Namen aufgeschrieben hatte: Sophia, Dunja, Foedora, Tanja ... Jeder Blume hatte er einen Russischen Vornamen verpasst. Was hatte dies zu bedeuten? Sie wurde neugierig, schlug das Heft auf, das auf seinem Schreibtisch lag. Akribisch waren die Gießmengen, die Gießzeiten, die Temperatur und die Feuchtigkeit der Orchideen aufgeführt worden. Tanja, Donnerstag, 9.43 Uhr, fünfundzwanzig Träufeleinheiten, Feuchtigkeit 61 %, Temperatur: 24 Grad Celsius.
Schwungvoll wand sich die Schrift unter ihren feuchten Augen. Einen besonderen Gefallen fand sie an den Rundungen der Ziffern. Ein eindeutiges Zeichen für Sinnlichkeit. Der Liebesknabe war ein Hedonist! Sie malte sich aus, wie er morgens seine Halbgöttinnen mit einem leichten Anheben der Blüten begrüßte:
Guten Morgen Agatha,
Wie geht es dir ? Tanja,
Na, Dunja, immer noch schön munter?
Sophia, heute schenkst du mir deine Blütenpracht!
Ein verführerischer Kerl der raffiniertesten Sorte! Ah, wie gern sie eine seiner Blumen gewesen wäre! So sehr sehnte sie sich nach seiner warmen Hand, so sehr dass ihr die Knie versagten. Sie musste sich hinsetzen, nahm an seinem Schreibtisch Platz und versuchte ihr wild tobendes Herz zur Räson zu bringen. Und plötzlich fühlte sie mit der Hand den Stoff an ihrer rechten Seite. Die Schürze, SEINE Schürze lag auf der Lehne, in einem zarten verwaschenen Blau, unschuldig und artig wie die Flügel eines Engels. Sie nahm sie in die Hände, führte den Stoff zu ihrer Nase, senkte die Lider und atmete tief ein. Es roch himmlisch! Nach Schweiß, Vanille, heißen Verführungen, die zu noch heißeren Versprechungen führten, nach Erde, Ton, Kreide, Tinte und Liebesspielen, nach verflochtenen Händen, Armen, Körpern, nach Genuss, Vergnügen und Liebesakt. Sie schnüffelte so lange bis sie selig und erschöpft auf dem Stuhl einschlief.
Am Montag sollte sie ihn wieder sehen. Aber Montag war der Tag der Lagebesprechung mit ihrem Kompetenzteam. Um Punkt neun Uhr erschien eine Kohorte von grauen Männern in dem roten Salon.
Fünf Bittsteller in Nadelstreifen: der Banker, der Vermögensberater und Buchhalter und Generalsekretär der Partei, der Notar, der Arzt und der Privatsekretär nahmen an der Längsseite eines Ebenholztisches Platz. Sie an der anderen Seite.
Sie wollte es schnell hinter sich bringen und zu ihrem Gärtner eilen. Das Gute dabei war, dass der Blick auf die Männer ihr purzelndes Herz beruhigt hatte.
Nach den Formalitätsfloskeln über das Wetter und ihre Gesundheit, ergriff der Banker das Wort: „Verehrte Frau Rosenthaler, die Fusion zwischen zwei Ihrer stärksten Konkurrenten für 180 Milliarden DM vergangene Woche ist leider nicht spurlos an dem Konzern Rosenthaler & Blumenbeet vorbei gegangen. Die Namen der beiden fusionierenden Konzerne mögen nicht sehr bekannt sein, ihre Produkte schon. Die neue entstandene Holding wird Rosemarie die Glückspille und Fatomas die Antifett-Pille vertreiben. Beide werden Schatten auf die Rosenthaler Produkte werfen. Die Fusion wird sich für uns negativ am Börsenmarkt bemerkbar machen. Aber nicht lang und nichts Gravierendes. Ein paar Prozente. Nicht mehr. Das wird sich legen.“
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