Möglich, das ich mich nach allen diesen Jahren nur noch an wenige Dinge erinnerte, unsicher über das Grau seiner Haare war, oder die Bläue seiner Augen .... aber dieses Lachen, das würde ich in tausend Jahren nicht vergessen. Niemals.
Ich war zwölf Jahre alt und wußte, was es bedeutete, wenn jemand tot war.
Aber in diesem Moment hätte ich schwören können, dass er da war, neben mir stand, mich mit den Flügeln seiner Seele berührte, tröstete.
Er war da, weil ich ihn fühlte!
Und da konnte ich weinen, Einen Sturzbach von Tränen, mit denen sich der Schmerz löste und diese wunde, für immer leere Stelle in meinem Herzen auswusch.
Gott, hatte das gutgetan.
Für wenige Herzschläge war er da gewesen und hatte mir mitgeteilt, dass er für immer bleiben würde. Ganz winzig klein und fast unbemerkt bewohnte er einen Winkel meines Herzens, lebte in meiner Erinnerung, verblieb mir, auch wenn alles andere verging.
Aber jetzt roch ich nichts.
Nichts von Yvonne.
Der Stoff war eine Spur feucht und da war dezent ein Hauch von Mottenkugeln.
Yvonnes Seele war gefangen, sie konnte nicht kommen und mich mit ihrem Verlust und gleichzeitigem immer währenden Vorhandensein vertraut machen.
Yvonnes Seele war weit entfernt von jener Art Schmerz, den ich jetzt in meinem Herzen empfand, der mich mit einer eisigen Furcht erfüllte, die mir den Hals zuschnürte und den Magen hob.
Das Kleid glitt mir aus den Händen, ich war nicht in der Lage, es aufzuheben.
Ich konnte das nicht tun.
Sollte Mama doch aussortieren, was noch von Nadine getragen werden konnte, was zum Roten Kreuz kam. Sollte Mama sich doch um die hinterlassenen Dinge Yvonnes kümmern.
Warum ich?
Ich schauderte bei dem bloßen Gedanken daran, Yvonnes guten Mantel in meinen Schrank hängen zu sehen, jedes Mal, wenn ich die Schranktüre öffnete, zu sehen ....
Verdammt, sie hatte kein einziges Bild.
Keine Püppchen, Teddybären, Nippes oder irgendwelchen Erinnerungskitsch. Keine Tassen von Kollegen, auf denen stand: “Sprich mich nicht vor neun Uhr an.”
Keine quitschrosafarbenen Hausschuhe, die einem nur der schlechte Geschmack in Geschenknotstand geratener Bekannten bescheren konnte.
Mein Gott, sie hatte nicht mal einen billigen Werbekugelschreiber von einer Apotheke.
Ich war so voller Zorn, ich schlug mit der Faust gegen die Wand. Die dünne Lattenwand erzitterte, der Spiegel über der Kommode verrutschte .... und ein Ecken weißen Papiers ragte heraus.
Vorsichtig hob ich den Spiegel an, zog ein mit roten Satin- Band zusammengeschnürtes Bündel Papiere heraus. Die Seiten waren eng und sorgfältig mit Yvonnes klarer Kinderschrift bedeckt.
Yvonnes Liebesbriefe?
Ich sah noch mal in der Schreibtischschublade nach und fand diesen wunderbaren, teuren Mont- Blanc- Füller. Eine einzige kleine Sünde und die überzeugende Zweckmäßigkeit eines ordentlichen Füllfederhalters, der nicht schmierte oder kleckerte.
Für die wichtigen Dinge im Leben.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und sah mein blasses Gesicht im Spiegel. Sie hatte hier gesessen und diese Briefe geschrieben. Ich würde sie lesen und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei.
Ich wollte wissen, wer meine Schwester gewesen war, an wen sie schrieb, was sie gedacht hatte .... warum sie sich tötete.
Ich wollte wissen, was mit ihr geschehen war.
Wenigstens das.
Schon nach den ersten Zeilen wurde mir klar, dass ich mich irrte.
DIE LEGENDENFRAU
Als der König gestorben war, der gute, gerechte, weise und mutige König, trauerte das Land ein ganzes Jahr.
Die Menschen in der Stadt legten schwarze Gewänder an, verhängten die Spiegel, zündeten Kerzen auf ihren Hausaltären an und beteten jeden Tag für seine Seele.
Sie wussten, er würde nie wieder an der Spitze seines Heeres ausziehen und die Menschen seines Landes vor dem Drachen verteidigen, der sich in eine Höhle in den Bergen zurückgezogen hatte und sich noch so sehr vor dem gewaltigen, donnerndem Lachen des Königs fürchtete, dass er noch nicht wieder hervor kam.
Noch verschonte er die Menschen.
Noch verpestete der Gifthauch seines feurigen Atems nicht die Luft über der Stadt, verbrannte nicht die Frucht auf den Feldern, briet nicht die Fische im Fluss, versengte nicht die vielen kleinen Feldaltäre, die die Menschen im Glauben an das Gute und aus Liebe zu Gott aufgestellt hatten.
Der König hatte drei Töchter, die noch zu jung waren, um mit einem tapferem Krieger vermählt zu werden, doch keinen Sohn.
Die Königin aber war eine wunderschöne Frau und bald fanden sich Bewerber um ihre Gunst ein.
Vielleicht hätte sie länger getrauert, aber die Stadt war arm, die Menschen fürchteten sich vor dem Drachen und so heiratete die Königin bald, denn sie war schwach in ihrem Herzen.
Der neue König aber war ein böser Mann.
Er war habgierig, er war ungerecht.
Er feierte Feste und kämpfte nicht gegen den Drachen. Vielmehr ließ er sich mit ihm ein, erhandelte einen Waffenstillstand mit ihm, der einen grausigen Preis erforderte.
Der Drache versprach, die Menschen der Stadt in Ruhe lassen, wenn sie ihm Jahr für Jahr eine Jungfrau opferten.
Der neue König zählte auf, wie viele tapfere Krieger jedes Jahr im Kampf gegen das feuerspeiende Monster gefallen waren. So viele Tote, soviel Schmerz, soviel Leid.
Was war dagegen das Opfer eines einzigen Mädchens?
Der neue König redete und rechnete, ließ die gefallenen Helden wie Narren erscheinen, erschuf das Ideal einer opferbereiten Märtyrerin, die frohen Herzens den Tribut für ihr Volk zahlte, das sie gewählt hatte.
Er verwirrte den Menschen so sehr den Kopf, dass sie nicht mehr kämpfen wollten.
Nicht das Elend eines Menschenopfers sahen. Ein Opfer, das nicht einmal Gott verlangte.
Die Menschen wandten sich von den Gesetzen des guten Königs ab und von Gottes Willen, sie ließen sich auf einen Bund mit dem Bösen ein, und er, der neue König, hatte sie soweit gebracht.
Es war die zweite Tochter des alten Königs, die sich widersetzte.
Sie, die weder die Gesetze vergessen hatte, noch die Feigheit besaß zu schweigen, redete wider den neuen König.
Sie hatte erkannt, dass es keinen Bund mit dem Bösen, keinen Waffenstillstand und keinen Frieden mit dem Drachen geben konnte.
Gegen den Drachen musste man kämpfen, jeder Mann und alle Zeit.
Sowenig wie es einen Frieden gab, konnte man ihn besiegen.
Ihm nachzugeben, hieß schuldig zu werden, sich ihm auszuliefern.
Das Böse war allgegenwärtig und am gewaltigsten wurde es in den Herzen der Menschen, die aufgaben zu kämpfen und sich auf blutige Händeleien einließen, die das letzte Gute in ihnen auffraßen.
Solange die Menschen gekämpft hatten, waren ihre Herzen frei und ehrlich gewesen, ohne dieses Gefühl aber würde alles elend und schlecht werden.
Ihr Name war Isara und sie stand alleine gegen den König.
Ihre Mutter und ihre beiden Schwestern Yvara und Navara waren zu sehr in ihrer Trauer gefangen und sie hatten nie gelernt, sich zu wehren.
Isara kämpfte alleine gegen den König und das duldete er nicht.
Als die Zeit für das Menschenopfer gekommen war, schrieb ein Mönch den Namen einer jeden Jungfrau der Stadt auf Papier, und alle Lose wurden in eine gläserne Vase gesammelt.
Die gläserne Vase stand auf den Richterplatz auf dem Markt und die versammelten Menschen sahen zu, wie der König daraus ein Los zog, es entfaltete und den Namen laut vorlas.
ISARA
Das Los war auf die zweite Königstochter gefallen.
Ihre Mutter und beiden Schwestern begannen zu weinen, als man ihr die Hände band und nach vorne auf den Richterplatz führte.
Sie war sehr schön mit ihren goldenen Haaren, den Sommersprossen und ihrem empfindsamen Mund, der mehr von ihren Gefühlen verriet, als sie jemals sagen würde.
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