1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Der Gedanke, dass die Entscheidungsmacht der breiten Bevölkerung einem revolutionären Kern übertragen wird, steht im Gegensatz zu den Grundlagen des Marxismus. Karl Marx hatte die Vorstellung, dass das Proletariat selbst den Staat erobern würde, wenn der Kapitalismus sein letztes, sich selbst zerstörendes Stadium erreicht hatte. Die marxistische Lehre hat einen theoretischen Aspekt, der darin besteht, dass die Entwicklung infolge historischer Gesetze unausweichlich zum Sturz des Kapitalismus und Sieg des Proletariats führt und einen Aktionsaspekt. Demnach würde die Unterklasse in einem letzten entscheidenden Kampf sich von ihren Ketten befreien und ihre Unterdrücker vernichten. Lenin hat sich den Aktionsaspekt ausgewählt und diesen mit der verhängnisvollen Elitetheorie erweitert. Auf diese Weise wurde der Marxismus den Interessen der Intellektuellen angepasst. Er wurde damit zu einem Instrument, das diese Klasse auch in Zukunft anwenden konnte. In ihrer Rolle als revolutionärer Vortrupp oblag es den Intellektuellen, die Marschrichtung festzulegen und die Befehle zu geben. Der resoluten bolschewistischen Avantgarde gelang es außerdem, die moderaten Sozialisten, die Anarchisten und die sogenannten bürgerlichen Intellektuellen zu besiegen. Im Kampf um die Gestaltung einer neuen sozialen Ordnung konnte diese strenge Organisationsform ihre Überlegenheit beweisen.
Den Bolschewiki kommt jedoch nicht allein das Verdienst zu, die Feudalherrschaft gestürzt zu haben. Die Februarrevolution von 1917 muss als Aufstand charakterisiert werden, in dem die Verzweiflung der Volksmassen die letzten Reste der Zarenherrschaft und deren Autorität hinwegfegten. Der Druck, den die revolutionäre Mittelklasse ein halbes Jahrhundertlang lang auf die Oberklasse ausgeübt hatte, hatte das Regime untergraben und zu einem leichten Opfer gemacht. Auch der Krieg hatte günstige materielle Voraussetzungen für revolutionäre Aufstände geschaffen. In den Großstädten fehlte es an Brot und Brennstoffen, in den Fabriken wurde ohne Disziplin und mit geringem Arbeitstempo gearbeitet, und die Menschen litten unter entwürdigenden Wohnverhältnissen. Diese Faktoren bereiteten den Boden für die Februarrevolution, die als Werk der Unterklasse ist. Es war die Unterklasse, die das morsche Zarenregime zum Einsturz brachte, so dass ab dem 27. Februar die Soldaten und Arbeiter die Herrschaft in der Hauptstadt St. Petersburg ausüben konnten.
Überall wurden nun Arbeiter- und Soldatenräte, die sogenannten Sowjets, errichtet. Zu gleicher Zeit begann das Dumakomitee die parlamentarische Arbeit aufzunehmen. Eine provisorische Regierung wurde gewählt, die umgehend demokratische Rechte einführte. Russland stand vor dem Problem, ob in Zukunft die Duma, als Grundlage für eine bürgerliche Republik, oder die Sowjets das Rückgrat der politischen Ordnung sein sollte. Die provisorische Regierung wurde zwar von dem einflussreichen Arbeiter- und Soldatenrat von St. Petersburg anerkannt, in der Praxis hatte Russland aber in der Zeit zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution zwei Regierungen. Offiziell war die provisorische Regierung das höchste Führungsgremium des Landes, der St. Petersburger Sowjet beherrschte jedoch das Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen sowie die Miliz, die die Nachfolger der Polizei bildete. Außerdem kontrollierte der Petrograder Sowjet, wie er nun genannt wurde, die bewaffneten Streitkräfte der Stadt. Nach und nach wurde dessen Einfluss auf alle bewaffneten Truppenverbände des Landes ausgedehnt. Die Sowjets setzten im allgemeinen auch Löhne und Preise fest, bestimmten über Arbeitsbedingungen und entschieden über die Besetzung von Beamtenstellungen.
Die provisorische Regierung erstrebte ein demokratisches System nach westeuropäischem Vorbild. Da die Regierung jedoch hauptsächlich aus bürgerlichen Intellektuellen bestand, wurde sie durchweg von den Sowjets abgelehnt und nicht als Regierung des Volkes betrachtet. Die meisten Sozialisten waren der Meinung, dass die bürgerliche Demokratie ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Sozialismus sei. Die provisorische Regierung wurde daher von den moderaten Sozialisten anerkannt und teilweise von ihnen gestützt. Sie vertraten den Gedanken, dass die Arbeiterbewegung den Kampf der bürgerlichen Intellektuellen gegen die Feudalklasse unterstützen sollte. Feindschaft zwischen Arbeitern und Bürgertum sollte vermieden werden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt waren sogar die Bolschewiki bereit, einen Friedensvertrag mit den moderaten Sozialisten zu schließen.
Die Tendenzen zur Verbrüderung, um die in der Februarrevolution erzielten Ergebnisse zu bewahren, wurden von Lenin hintertrieben. Seine Ankunft in Petrograd, im April, wurde zum bestimmenden Ereignis für die weitere Entwicklung. In der Debatte um die zukünftige Rolle der Sowjets und der provisorischen Regierung stand sein Standpunkt unveränderlich fest. Alle Macht den Sowjets und keine Unterstützung der Regierung, forderte er. Mit Trotzkis Hilfe gelang es Lenin, die Partei der Bolschewiki zu einem schonungslosen Kampf gegen die provisorische Regierung zu überreden. Damit waren die Tage dieser Regierung gezählt.
Die Ursachen, die zum Fall der bürgerlichen Demokratie und zum Sieg des Bolschewismus führten, lassen sich nicht in wenigen Worten beschreiben. Die provisorische Regierung fühlte sich mehr oder weniger gezwungen, eine Demokratie zu verfechten, für die kaum eine materielle Basis gegeben war. Diese Aufgabe war fast unmöglich zu lösen. Auf der anderen Seite hat die Regierung zu lange gezögert, effektiv gegen die offene Konspiration der Bolschewiki einzuschreiten. Hinzu kommt, dass die moderaten Sozialisten die Regierung nur halbherzig unterstützten. Den Regierungsmitgliedern selbst fehlte das nötige Selbstvertrauen und der Wille zur Macht, wodurch sie der überlegenen Organisation der Bolschewiki die Arbeit erleichterten. Die provisorische Regierung war sich auch nicht der Bedeutung des moralischen Rechts bewusst. Ihre Politik den Krieg fortzusetzen, obwohl das Heer sich in Auflösung befand, hatte katastrophale Folgen. Zwei weitere Unterlassungen untergruben die moralische Berechtigung der Regierung. Die provisorische Regierung verzögerte zum einen die Einberufung einer grundgesetzgebenden Versammlung und zum anderen die Verabschiedung eines Gesetzes über die Bodenreform. In einer revolutionären Situation bleiben derartige Versäumnisse auf moralischem Gebiet nicht ungestraft.
Die Nachlässigkeit der provisorischen Regierung, ihre Legitimität zu sichern, wurde prompt von der bolschewistischen Elite ausgenutzt. Diese wusste die Bedeutung einer geschickt gesteuerten Propaganda zu schätzen. Seit der Französischen Revolution hat die Welt kein Beispiel zweckdienlicherer Agitation gesehen. Eine maßgeschneiderte Propaganda appellierte direkt an die Gefühle der breiten Massen. In einfachen Worten wurden Gemeinplätze, kaum Tatsachen, ins unendliche und mit einer solchen Überzeugung wiederholt, dass man leicht Agitation mit tiefsinnigen Wahrheiten verwechseln konnte.
In jeder revolutionären Phase entfaltet sich eine rege geistige Aktivität, in der lange zurückgehaltene Energien plötzlich hervorzubrechen scheinen. Die verbale Wirksamkeit erreichte ungeahnte Höhen. Dies hatte man während der Französischen Revolution erlebt, und die russische Komödie machte keine Ausnahme. Ein unerschöpflicher Quell neuer Ideen begann zu sprudeln. Eine Flut neuer Zeitungen und Zeitschriften kam auf den Markt, Beratungen und Konferenzen fanden vermehrt statt. Es wurde demonstriert, marschiert, Proklamationen wurden erlassen, Klagen eingereicht und Delegationen ernannt. Eine ganze Nation war in Aufbruch. Nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die Volksmassen hatten sich erhoben und offenbarten einen verblüffenden geistigen Reichtum. Überall diskutierte man und Vorträge wurden gehalten, in Schulen, auf Strassen und Plätzen, in Straßenbahnen, in den Fabriken, in den Gewerkschaften, im Theater, in den Kasernen und Klubs. Eine glühende Beredsamkeit und ein optimistischer Schaffensdrang kamen zur Entfaltung. Bisher unscheinbare Menschen entwickelten überraschende rhetorische Fertigkeiten. Waren auch nicht alle Reden reine Meisterwerke, so waren sie doch Teil eines großartigen historischen Schauspiels, das die Welt in Erstaunen versetzte. Einen Augenblick lang konnte man die schöpferische Kraft des Volkes verspüren. Wie ein Komet erleuchtete sie den dunklen Himmel, um aber schon bald wieder zu verblassen. Die revolutionäre Mittelklasse entriss dem Volke die Fackel. Die Intellektuellen hatten die Revolution herbeigeführt, um ihr eigenes Licht zu verbreiten.
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