Die Anarchisten erstrebten eine Revolution von unten, in deren Verlauf es in erster Linie um die Abschaffung jeglicher Autorität ging. Der Staat wurde als Hauptfeind betrachtet, diene er doch nicht den Menschen, sondern sei die Ursache aller Unterdrückung. Der Staatsapparat sei zu jeder Zeit ein Instrument in den Händen der herrschenden Klasse gewesen. Der Sinn der Revolution liege deshalb darin, diesen Apparat zu zerschlagen und zu sichern, dass sich keine neue Herrscherklasse dieses Apparates bedienen könne.
Die Anarchisten nährten die Vorstellung, dass eine neue soziale Ordnung aus den Ruinen einer in Stücke geschlagenen Staatsmacht erstehen könne. Diese Ordnung sollte auf einer Art freiwilliger, dezentraler Zusammenschlüsse beruhen. Sie nahmen an, dass sich eine Harmonie in den Beziehungen zwischen den Menschen von selbst einstellen würde, ist die Unterdrückung erst beseitigt. Ungerechtigkeiten würden nach dem Verschwinden der politischen Macht nicht mehr existieren. Der Mensch an und für sich sei gut, nur Tyrannei mache ihn unberechenbar.
Obwohl die Vorstellungen der Anarchisten vom Volk als romantisch, um nicht zu sagen als naiv bezeichnet werden müssen, lässt sich doch nicht leugnen, dass sie mit überzeugender Sicherheit den wunden Punkt jeglicher Machtphilosophie bloßlegten. Mit Recht waren sie misstrauisch gegenüber allen Philosophen, die Macht in ihren Theorien akzeptierten. Sie verabscheuten durchweg rationelle Systeme. Diese seien immer von Intellektuellen in Übereinstimmung mit den Interessen der Auftragsgeber geschaffen worden. Soll eine Gesellschaft mit rationellen Gesetzen geleitet werden, so ist dies gleichbedeutend mit der Rechtfertigung der Position der Intellektuellen an der Spitze des Staates. Die Anarchisten befanden sich deshalb in scharfer Opposition zur radikalen Intelligenz. Sie glaubten nicht, dass das Ziel der intellektuellen Sozialisten eine klassenlose Gesellschaft sei, sondern waren überzeugt davon, dass diese sich selbst als neue privilegierte Schicht etablieren wollten. Die Anarchisten unterstellten mehr oder weniger jedem linksorientierten Konkurrenten, eine soziale Ordnung zu erstreben, in der die Intellektuellen zur herrschenden Klasse aufrückten. Den marxistischen Intellektuellen warfen sie vor, das Proletariat als ein Mittel zum Zweck zu betrachten, als eine abstrakte Masse, die ausersehen sei, den historischen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Nach Meinung der Anarchisten sollten die Volksmassen aus eigenem Antrieb zu den Waffen greifen und eine soziale Revolution durchführen, ohne Beteiligung der Intellektuellen und insbesondere nicht unter deren Führung. Eine der anarchistischen Parolen lautete: „Schlagt die Studenten tot, wenn sie zu predigen beginnen!“
Heute ist bekannt, dass es nicht die anarchistischen Ideen waren, die den revolutionären Kampf inspirierten. Das bestimmende Element in der intellektuellen Mittelklasse hatte andere Pläne. Es herrschte Einigkeit, dass die gebildete Elite als Speerspitze fungieren sollte.
Das Ziel der liberalen Intellektuellen war eine bürgerliche Demokratie nach westeuropäischem Vorbild. In einem solchen System, so erwarteten sie, würde die politische Macht, die Regierung und die Bürokratie, in den Händen der liberalen Bürgerschaft liegen. Alle Gesellschaftsschichten sollten Zugang zu Aufklärung und Bildung haben, wodurch das Volk in größerem Umfang an der Führung teilnehmen könne.
Das war die Grundidee der meisten Sozialisten, deren übergeordnetes Ziel der Sozialismus war. Es erschien ihnen jedoch unmöglich, dass eine Gesellschaft direkt von der feudalen Ordnung zur sozialistischen übergehen könne. Ihrer Meinung nach stellte die Errichtung der bürgerlichen Demokratie eine notwendige Etappe dar, in der die Industrialisierung des Landes erfolgen sollte. In diesem Prozess würde sich der Kapitalismus nicht nur entfalten, sondern auch seinen Totengräber hervorbringen, nämlich die Arbeiterklasse. Wenn der Kapitalismus dann auf Grund innerer Widersprüche den Punkt baldigen Zusammenbrechens erreicht hat, könnten die Intellektuellen mit Unterstützung der Arbeiterklasse dem Feinde den vernichtenden Dolchstoss versetzen. Erst zu dann sei die Gesellschaft reif für den Sozialismus. Bis aus weiteres gelte es, die alte Ober klasse zu zerschlagen und dem Proletariat seine historische Mission bewusst zu machen.
Die radikalen Bolschewiki, an deren Spitze Lenin stand, hatten eine andere Auffassung. Lenin bezweifelte den Erfolg der schöpferischen und selbstregulierenden Kräfte einer Massenbewegung ohne koordinierende Führung. Er glaubte nicht, dass eine baldige Erhebung der Massen zu erwarten war. Durch seine Erfahrungen in Westeuropa wusste er, dass die bürgerliche Demokratie dämpfend auf die revolutionären Kräfte der Arbeiterbevölkerung wirkte. Die Aktionen der Arbeiter waren nur gegen einzelne Arbeitgeber gerichtet und hatten zum Ziel, die Lohn- und Arbeitsverhältnisse zu verbessern. Der Sturz des Kapitalismus lag nicht mehr als aktuelle Aufgabe in ihrem Aktionsradius, denn je größer die ökonomischen Vorteile, die sich die Arbeiterklasse erkämpfte, waren, desto geringer wurde ihr revolutionäres Bewusstsein. Auf diese Weise wurden die Arbeiter verbürgerlicht. Lenin kam daher zu der Schlussfolgerung, dass der Aufbau des Sozialismus nach einer bürgerlichen Revolution eine Unmöglichkeit sei. Mit rhetorischer Überzeugungskraft und enormer Willensstärke verteidigte er die These, dass eine Übergangsperiode mit parlamentarischer Demokratie übersprungen werden muss.
Der Übergang vom Feudalismus zum Sozialismus war nur mittels einer zielgerichteten Revolution zu bewerkstelligen. Eine solche konnten die Massen aus eigener Kraft weder auslösen noch durchführen. Eine derartige Umwälzung war nur möglich unter Führung einer geschulten, disziplinierten und harten Elite, die die Massen mit Schlagwörtern unaufhaltsam vorwärtstrieb.
Die Möglichkeit, eine Revolution von oben zu inszenieren, war bereits von P.N. Tkatschow, der 1885 starb, in Erwägung gezogen worden. Dieser Revolutionär unterstrich die Notwendigkeit einer konspirierenden Elite, die ohne Rücksichtnahme auf die Kampfbereitschaft der Massen die Staatsführung erobern sollte. Er vertrat darüber hinaus die Meinung, dass die Machtübernahme zu einem Zeitpunkt erfolgen muss, bevor sich der Kapitalismus zu einem Machtfaktor entwickelt habe, da dieser stabilisierend auf die geschwächte Feudalherrschaft wirken könnte.
Diese Gedanken wurden von Lenin weiterentwickelt. Er behauptete nun, dass man nicht auf eine spontane Erhebung der Massen, wie dies insbesondere von Anarchisten vorhergesehen wurde, warten könne. Es gehe vielmehr darum, eine effektive Organisation von Berufsrevolutionären zu schaffen. Dieser gestählte Kern überzeugter Männer sollte sowohl über Handlungskraft als auch philosophische und historische Kenntnisse verfügen und die revolutionäre Theorie ausgezeichnet beherrschen. Eine solche kleine Elite, davon war Lenin überzeugt, konnte nicht nur das Bewusstsein der Massen sondern auch den Gang der Geschichte verändern. Die Elite, das ergibt sich aus der Natur der Sache, musste aus Intellektuellen bestehen, die derselben Klasse angehörten wie Lenin. Die revolutionäre Strategie wurde in folgender Parole zusammengefasst: "Gib uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden ganz Russland umstürzen!" Es war also keine Rede von einer breiten Organisation, die den Volksmassen offenstand, sondern nur von einer kleinen, disziplinierten Partei, vergleichbar Mauerbrechern, die die Bastionen der Oberklasse erfolgreich stürmen, die Spaltung der Mittelklasse überwinden und die revolutionäre Energie der Unterklasse dirigieren sollte. Das bedeutete nichts anderes, als dass alle Massenbewegungen und sozialen Veränderungen von einer intellektuellen Elite geleitet werden sollten. Mit dieser katastrophalen Lehre rechtfertigten die Intellektuellen fortan ihre Rolle als Administrator der Gesellschaft. Diese Ideologie, von Intellektuellen formuliert, war eine gefährliche Waffe in den Händen der ambitiösen Mittelklasse. Damit unterwarf sie die Unterklasse ihren eigenen Interessen.
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