Schon kurz nach dem Sturz des Feudalregimes begann eine wilde Jagd nach den besten Plätzen in der sozialen Ordnung des neuen Staates. In der Mittelklasse war nur solange Raum für Solidaritätsgefühle mit der Unterklasse, bis die Klassenherrschaft erobert war. In der Zeit danach und bis die neue Gesellschaftsstruktur gefestigt war, bestand die soziale Aktivität in einem Kampf aller gegen alle. Knappheit erzeugt Ungleichheit und führt unausweichlich zu einem Kampf um die materiellen Güter. Wo die Armut als Fundament dient, wird der fertige Aufbau immer eine Diktatur sein. Die Fassade kann unterschiedliche Baustile haben, es wird aber immer die Minorität sein, welche die komfortabelsten Räume im jeweiligen Gebäude beschlagnahmt.
Die Intellektuellen verdrängten die Arbeiter in zunehmendem Masse aus den beschließenden Organen. Die Gebildeten eroberten die Führungspositionen in der Wirtschaft und Industrie. Als Techniker, Ingenieure und Verwaltungsexperten lebten sie ausgezeichnet auf Kosten der "Diktatur des Proletariats". Im allgemeinen waren sie die Spezialisten der alten Finanz- und Industriekreise, die sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit den neuen Verhältnissen anpassten. Die Beamten waren besonders flexibel und durchdrangen alle Sowjetorgane. Diese Vertreter der alten Ordnung hatten logischerweise feste Vorstellungen über die Leitung von Unternehmen und die Führung des Staates. Der Geist, mit dem sie die Sowjetorgane durchdrangen, war dem Proletariat fremd. Das Wissen und die Zungenfertigkeit der Spezialisten setzten sich durch. Selbst die Rote Armee wurde nach und nach von Spezialisten untergraben. Jüngere Offiziere bekannten sich zum Bolschewismus und wurden großzügig mit Beförderungen belohnt. Mit ihnen kam die alte Disziplin, der Respekt vor den Schulterklappen und das Wissen um den korrekten Kommandoweg. Die Revolution hatte für den einfachen Soldaten in der Armee nichts Neues gebracht, abgesehen davon, dass die Armee einen anderen Namen erhalten hatte.
Der Kern der Partei hat immer aus Spezialisten bestanden, dies entsprach auch Lenins Elitetheorie. Im Anfang bestand die Partei fast ausschließlich aus unzufriedenen Universitätsangehörigen. Später wurden einige der am besten geeigneten Vertreter der Arbeiterklasse aufgenommen, die den Intellektuellen gleichzeitig als Aushängeschild dienten. Außerdem nahm die Partei Offiziere und Beamte aus der zaristischen Bürokratie auf, die bereit waren, mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten. Bald ging die Partei zur Zentralisierung über, was sie mit der Gefahr konterrevolutionärer Anschläge und einem Wiedererstarken kapitalistischer Tendenzen begründete. Die allgemeinen schwierigen Verhältnisse erleichterten die Notwendigkeit einer straffen Leitung der Industrie- und Nahrungsmittelproduktion. Da Regierung und Partei in Wirklichkeit identisch waren, führten die verstärkten Zentralisierungsbestrebungen dazu, dass ohne die Partei keine Entscheidung getroffen werden konnte. Alle Staatsorgane gerieten nach und nach unter die Kontrolle von Parteiorganisationen, während die Sowjets als selbständige Organe eliminiert wurden. Eine politische Alleinherrschaft begann sich zu formen. Der ratgebende Einfluss der Arbeiter und Bauern nahm denselben passiven Charakter an, den die Ständekammer in einer absoluten Monarchie hat.
Die Anerkennung der Elitetheorie kam somit einem Misstrauensvotum an die schöpferischen Kräfte des Volkes gleich. Auch nach der Revolution waren keine Anzeichen für eine Änderung in Sicht, im Gegenteil, in der Partei wuchs der Glaube an die Experten. Obrigkeitsdenken und Funktionärsmentalität prägten binnen kurzer Zeit den gesamten Parteiapparat. Der Bürokratisierungsprozess verbreitete sich von der Partei ausgehend in den staatlichen Organen. Die Intellektuellen setzten sich an die Spitze der Macht, und die Unterklasse wurde wie eh und je auf der niedrigsten Stufe der sozialen Hierarchie platziert. Darin bestehen die praktischen Ergebnisse der Elitetheorie. Das Proletariat wurde von den neuen Herren wie eine willenlose Viehherde in die Bergwerke, die Fabriken und auf die Schlachtfelder dirigiert. Unter dem Eindruck derartiger Tendenzen unternahm die Arbeiteropposition einen letzten Versuch, die Entwicklung zu wenden.
Die Opposition bestand hauptsächlich aus aktiven Gewerkschaftlern, die nicht, wie viele der Gewerkschaftsführer, von der neuen Machtkonstellation korrumpiert waren. Diese Führer waren vor der körperlichen Arbeit geflüchtet und hatten eine Karriere innerhalb der Sowjetorgane oder der Partei gesucht. Die Angehörigen der Arbeiteropposition, die schon während der Revolution das schwere Los gezogen hatten, hielten weiterhin die Stellung in den Fabrikshallen. Sie konnten deutlich sehen, wie der Arbeiterbevölkerung eine immer unbedeutendere Rolle in der Sowjetrepublik zugeteilt wurde, wie sich deren Einfluss auf die Gestaltung der neuen Gesellschaft in zunehmendem Tempo verringerte. Die Arbeiter wurden aus der Partei, der Regierung und den zentralen Machtorganen von einer Klasse verdrängt, die nie eine Fabrik von innen gesehen hat. Dass die Arbeiter sowohl des Rechts zur Organisierung des Produktionsprozesses als auch ihrer bewährten Kampforgane, der Gewerkschaften, beraubt wurden, wurde von der Opposition als Katastrophe aufgefasst.
Die Parteielite behauptete, dass die Gewerkschaften in einer sozialistischen Gesellschaft neue Funktionen zu erfüllen haben. Der Klassenfeind sei vernichtet, und damit bestehe keine Notwendigkeit für Kampforganisationen. Leo Trotzki entwickelte den Gedanken, die Gewerkschaften zu einem Teil der Staatsmacht zu machen, zu einer Art Arbeitsministerium. Dort sollten sie sich auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und die Erhöhung der Produktion konzentrieren. Trotzki unterstellte den Menschen, arbeitsscheu zu sein und sah deshalb die Funktion der Gewerkschaften darin, ihre Mitglieder zu disziplinieren und zu selbstlosem Arbeitseinsatz zu motivieren. Trotzki wurde zum Fürsprecher einer Militarisierung des Arbeitslebens: Arbeit sei eine Pflicht und es sei auch nicht annehmbar, dass die Arbeitskräfte sich frei nach eigenem Gutdünken und individuellen Wünschen von einem Ort zum anderen bewegten. Arbeitskräfte müssten dort platziert werden, wo sie der Gesellschaft den größten Nutzen bringen. Zeitweilig hatte Trotzki durchgesetzt, dass Arbeiter zu dringenden Arbeitseinsätzen verpflichtet werden konnten. Auf diese Weise war es möglich, die Arbeiter wie Soldaten zu kommandieren und Arbeitsverweigerung als Desertion zu betrachten. Für Trotzki bestand die Aufgabe der Gewerkschaften darin, die Mitglieder zu bestimmten Arbeitsmissionen zu verpflichten und die Arbeit zu verteilen. Jeder wahre Sowjetbürger sollte sich als Arbeitssoldat fühlen, der nicht über sich selbst disponieren konnte.
Ein anderer Spitzenführer der Partei, Nikolai Buchanin, schloss sich im Wesentlichen den trotzkistischen Grundprinzipien über die Funktion der Gewerkschaften in der sozialistischen Gesellschaft an. Auch Buchanin sprach sich dafür aus, die Gewerkschaften den sowjetischen Organen zu unterstellen und nicht umgekehrt. Die Tatsache, dass der Sowjetstaat ein Arbeiterstaat sei, war Garantie genug, um das Entstehen von Gegensätzen zwischen Arbeitern und Staatsorganen zu verhindern. Es müsse der Grundsatz gelten, dass sich kleine und unbedeutende Institutionen den größeren unterordneten, da diese über einen breiteren gesellschaftlichen Überblick verfügten. Buchanin sah daher keinen Grund, den Gewerkschaften ökonomische Funktionen zu übertragen. Die Entwicklungsrichtung und den Umfang der Produktion zu bestimmen, sei Aufgabe der Sowjetorgane. Den Gewerkschaften stehe damit auch mehr Zeit zur Disziplinierung der Arbeitskräfte zur Verfügung.
Buchanins Vorschlag, die Gewerkschaften den Sowjetorganen zu unterstellen, ging davon aus, dass über diesen Institutionen die Partei stand. Die Partei verkörperte den progressivsten Teil des Volkes und war die Avantgarde des Proletariats. Auf Grund dieser Tatsache sei die Partei verpflichtet, alle gesellschaftlichen Prozesse zu leiten. In Bezug auf die Gewerkschaften bedeutet dies, dass die Partei deren ideologische Führung übernimmt. Wie das Triebrad einer Maschine, so müsse die Partei dafür Sorge tragen, dass sich alle kleineren Räder in der richtigen Richtung bewegten. Eine kommunistische Fraktion in allen Gewerkschaftsgruppen war somit eine Notwendigkeit. In dem Konflikt zwischen der Arbeiteropposition und der Trotzki-Buchanin-Gruppierung stand Lenin zwischen den beiden Seiten. Seiner Meinung nach sollte den Gewerkschaften eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den Staatsorganen eingeräumt werden. Der Staat stütze sich ja auch auf die Bauern. Was das Verhältnis zur Partei betraf, war indessen keine Diskussion möglich. Die Diktatur des Proletariats war nur mit Hilfe der Avantgarde zu verwirklichen, da diese alle revolutionäre Energie des Proletariats in sich vereinte. Die Partei war sozusagen die Inkarnation der Arbeiterklasse, und die Gewerkschaften sollten als Bindeglied zwischen der Elite und den Massen fungieren. Lenin ging es darum, sich den Massen zu nähern, sich mit ihnen zu verbünden und sie zu beherrschen. Die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften war pädagogischer Art. Sie bestand darin, den Mitgliedern die Politik der Partei zu erklären und für die Realisierung der Parteibeschlüsse zu sorgen. Dies erforderte eine ständige Erziehung der Mitglieder im kommunistischen Geist und in revolutionärer Disziplin.
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