Die Kollektivierung der Landbevölkerung wurde daher zum Ziel einer der blutigsten Kreuzzüge der Geschichte. Die Bauern vernichteten die Ernte, erschlugen das Vieh und verschanzten sich vor den Todesschwadronen des Staates. Die Zahl der Bauern, die in diesen schrecklichen Kämpfen umkamen, wird auf mehr als mehr als 5 Millionen geschätzt. Aber ihr desperater Widerstand war vergeblich. Nach diesem Blutbad war der Bauernstand, nun auf die niedrigste Stufe der sozialen Ordnung verwiesen, vollkommen ungefährlich für die wachsende Klasse der Bürokraten.
Das private Eigentumsrecht konnte nun nicht länger als Bollwerk gegen die zunehmende Macht des Staates dienen. Der Staat übernahm die Kontrolle über alle Produktionsmittel. Die Intellektuellen disponierten über die gesellschaftlichen Reichtümer. Allein besaßen sie nichts, zusammen jedoch alles. Die mächtigste Klasse in der Geschichte begann sich zu etablieren. Die Arbeitskräfte und Produktionsresultate einer riesigen Nation waren unter die Vormundschaft der Intellektuellen geraten.
Die Bürokratie begann zu wachsen. Ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten boten sich der intellektuellen Klasse. Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln hinterließ einen sozialen Leerraum, der von einer bisher recht unbeachteten Gesellschaftsgruppe besetzt wurde: Die Anzahl der Funktionäre stieg sprunghaft. Man rechnet damit, dass jeder vierte Einwohner Petrograds bereits 1920 in der Administration beschäftigt war. Heutzutage gibt es in der Sowjetunion genauso viele Spezialisten und Administratoren wie Kollektivbauern. Die soziale Last des unproduktiven Überbaus liegt schwer auf der produktiven Bevölkerung, was eine dementsprechende Ausbeutung zur Folge hat. Die Einkommen der Staatsbeamten können nur vom Mehrwert, den die Arbeiter und Bauern durch ihren produktiven Einsatz geschaffen haben, bestritten werden. Die Staatsbeamten disponieren über die Produktionsmittel und Produkte wie ehedem der Feudaladel. Im Unterschied zu diesem haben sie jedoch eine bessere Kontrolle über die Bevölkerung, denn durch die Revolution wurde das Wirkungsfeld der Gewerkschaften eingeschränkt, das Streikrecht beseitigt, die Rede- und Pressefreiheit sowie der Rechtsschutz zu Proformarechten verwandelt. Der Umsturz hat sozusagen zu einer Klassenherrschaft geführt, die schlimmer als die vorherige war.
Den Rechtsschutz im zaristischen Russland muss man unbestritten als unvollkommen bezeichnen, trotzdem war das ehemalige Rechtssystem fast vorbildlich verglichen mit der sozialistischen Rechtsordnung. Die Revolution hat die juristischen Grundlagen völlig verändert. Während das alte Rechtssystem beispielsweise das private Eigentumsrecht beschützen sollte, war die neue Rechtsordnung auf den Schutz des Kollektivs ausgerichtet. Diese Änderung hatte zur Folge, dass das Recht des Individuums nun in einem ganz anderen Masse der Rechtsauffassung der Gesellschaft untergeordnet wurde. Der einzelne bedeutete nichts im Verhältnis zum Kollektiv. Vielen sozialistischen Theoretikern ist unerklärlich, dass die Willkürmaßnahmen gegenüber der Bevölkerung nicht mit der Liquidation der Ausbeuterklasse verschwunden waren. Die Lösung des Rätsels ist einfach und besteht in der Etablierung einer neuen Ausbeuterklasse, deren Herrschaft auf dem Verfügungsrecht über das öffentliche Eigentum beruht. Die Bekanntgabe, dass mit dem Sieg der Revolution der Klassenkampf zu Ende ist, diente den neuen Machthabern als Rechtfertigung, die bisherige Gewaltenteilung im Staat aufzuheben. Eine prinzipielle Trennung zwischen der gesetzgebenden, rechtssprechenden und Regierungsmacht einschließlich der Macht über die Informationsquellen existierte nicht länger. Der einzelne Bürger war deshalb der Willkür der Behörden preisgegeben.
Der Machtmissbrauch in der Mitte der 30erJahre war ohne Beispiel in der Geschichte. Im Rechtssystem wie in der Verfassung waren keine prinzipiellen inneren Widersprüche eingebaut. Die Handhabung des Rechtssystems funktionierte reibungslos. Prozesse verliefen ohne Konflikte, strebten doch Richter, Ankläger und Verteidiger nach dem gleichen Ziel. Dass auch der Angeklagte sich in diese Richtung bewegte, hing damit zusammen, dass dessen Wille schon vor der Verhandlung gebrochen worden war. Die Voruntersuchung diente nicht der Wahrheitsfindung, sondern hatte zum Ziel, den Willen des Angeklagten zu brechen. Der Anwendung von Folter ist es zuzuschreiben, dass fast alle Angeklagten sich der vorgeworfenen Verbrechen schuldig bekannten. Allein die Geständnisse der Angeklagten waren ausreichend, deren Schuld als bewiesen zu erachten. Die tiefe Erniedrigung, der die Angeklagten in der sozialistischen Rechtsordnung ausgesetzt waren, dienten nicht der Lösung der Schuldfrage, sondern waren immer eine Folge politischer Zweckmäßigkeit. Rücksicht auf die Interessen von Partei und Staat hatte den Vorrang vor der Wahrheit. Es existierte kein Gericht, das ein Individuum gegenüber dem Staat verteidigt hätte. Die Richter waren Parteimitglieder und Agenten des Staates. Waren sie zu mild, konnten sie ausgewechselt werden. Prozesse waren nur öffentlich, wenn sie als Propagandamittel dienten oder Furcht verbreiten sollten.
Die Ideologie der Partei rechtfertigte alle Übergriffe. Von Anfang an hatte die Partei sich des Rechts bemächtigt. die jeweils geltende politisch-ideologische Linie zu bestimmen. Jede Herrscherklasse verfügt über das Definitionsrecht. Von dieser Gesetzmäßigkeit wich auch die bolschewistische Elite nicht ab. Die neue Klasse war in diesem Zusammenhang sogar raffinierter als ihre Vorgänger. Sie verkündete nämlich den Führungsanspruch und die Unfehlbarkeit der Partei als wissenschaftlich bewiesen. Die Begründung von politischen und juristischen Entscheidungen mit Hilfe wissenschaftlicher Fakten war ein Phänomen in der Weltgeschichte. Bisher hatten sich die Herrscherklassen vernunftmäßiger und moralischer Argumente bedient, um ihre Entscheidungen zu begründen. Für die Partei verschmolzen Ideologie und Wissenschaft. Dies galt selbstverständlich nicht für abweichende Ideologien, die nach ihrer Meinung falsch waren und die Wirklichkeit verzerrten. Hinrichtungen und die Verschleppung von Millionen in Konzentrationslager geschahen im Namen des Sozialismus. Die Taktik, die Diktatur im voraus zu proklamieren, feierte wieder Triumphe.
Warum aber kam es in den Arbeitslagern zu keinen Aufständen? Die Antwort ist darin zu suchen, dass die öffentliche Meinung durch die Meinung der Partei ersetzt wurde, da diese ja wissenschaftlich begründet war. Ohne die Existenz einer öffentlichen Meinung blieb jede Form von Widerstand ohne Wirkung. Proteste, Hungerstreiks, Selbstverbrennungen und Aufstände wurden nie öffentlich bekannt. Bereits ab 1926 hatte die Kommunistische Partei das Pressemonopol. Die Bevölkerung konnte von diesem Zeitpunkt an nur über Ereignisse und Tatsachen informiert werden, die von höchster Stelle genehmigt waren. Die Folgen des Fehlens einer freien Meinungsbildung sollten der Menschheit als mahnende Warnung für die Zukunft dienen.
Nach und nach beherrschte der Staat alle Bereiche des geistigen Lebens. Die Parteipresse konnte den Lesern die jeweils vorherrschenden politischen und ideologischen Anschauungen indoktrinieren, ohne dass diese die Möglichkeit zu protestieren hatten. Unterricht und Erziehung unterlagen den Interessen der neuen Klasse. Die Schulen wurden in den Dienst des neuen Regimes gestellt, um die Jugend für das System zu gewinnen. Die Lehrer wurden umgeschult, die Lehrbücher umgeschrieben. Es galt, die Wirklichkeit so darzustellen, dass sie mit den Erfordernissen der neuen Situation in Übereinstimmung war. Jugendorganisationen wurden gegründet, um die ideologische Schulung der jungen Generation zu sichern und diese auf den kommenden Militärdienst vorzubereiten. Die spätere Karriere in der Gesellschaft war zum Teil von dem Einsatz in den Jugendorganisationen ab hängig. Mittels Beförderung und Degradierung war die neue Generation relativ leicht zu zähmen.
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