Literatur und Kunst wurden gleichgeschaltet, die Zensur wieder eingeführt. Nur progressive Kunst fand Anerkennung, und was progressiv war, definierte die neue Klasse.
Wissenschaft und Forschung unterlagen ebenfalls der offiziellen Philosophie, dem dialektischen Materialismus. Das wohl bekannteste Beispiel politischer Übergriffe auf diesem Gebiet ist die Lysenko-Affäre. Der Biologe Trofin Lysenko hatte die These aufgestellt, dass Pflanzen und Tiere unter veränderten Umweltbedingungen neue Eigenschaften erwerben konnten, die zudem erblich seien. Durch Veränderung der Lebensbedingungen sei es demzufolge möglich, neue Arten zu schaffen. Diese an und für sich interessante Theorie wurde im Jahre 1948 vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei als progressiv und proletarisch anerkannt. Die bisher in der Genetik geltenden Mendelschen Gesetze wurden als falsch und reaktionär erklärt, da diese den Grundsätzen des dialektischen Materialismus widersprachen. Lysenkos Gegner wurden ganz einfach in Arbeitslagern und Gefängnissen interniert. Die Theorie des dialektischen Materialismus besagt, dass das menschliche Bewusstsein und Verhalten das Produkt seiner Umwelt sei. Lysenkos Ideen konnten daher unter Umständen wissenschaftlich beweisen, dass es möglich ist, einen kommunistischen Menschentyp zu schaffen und dessen Eigenschaften zu vererben. Die Ideologie war jedoch nicht in der Lage, die Gesetze der Natur zu verändern. Der Marxismus war zu einem Instrument umfunktioniert worden, das das neue Machtsystem in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens verteidigen sollte. Die humanistischen Wissenschaften waren deshalb einem besonders starken ideologischen Druck ausgesetzt, da zum Beispiel Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung wechselnden politischen Auffassungen und Interessen der obersten Parteiführung unterlagen. Weder der Durchschnittsbürger noch der der sowjetische Historiker kennen die Vergangenheit auf Grund eigener Quellenstudien. Die meisten Archive, sowohl die örtlichen als auch staatlichen, waren vor dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 nicht zugänglich. Es war daher nicht einmal möglich, die Geschichte der Revolution auf der Grundlage von Originaldokumenten zu beschreiben. Die Historiker waren auf die Parteizeitungen angewiesen. Auch heute sind es die Parteiideologen, die die Vergangenheit erklären, wobei abweichende Meinungen nicht toleriert werden. Es ist die jeweils aktuelle politische Zweckmäßigkeit, die über die Darstellung historischer Tatsachen bestimmt. Die Beschreibung der Vergangenheit wird je nach Erfordernissen der herrschenden Elite justiert. Natürlich wird Geschichte auch in westlichen Ländern umgeschrieben. Dies ist jedoch Aufgabe der Historiker. Beispielsweise können historische Ereignisse mit neuen Maßstäben gemessen werden, das Auftauchen neuen Quellenmaterials kann das bisherige Verständnis von historischen Geschehnissen verändern, und neue Problemstellungen führen eventuell zu neuen Erkenntnissen. In den demokratischen Ländern wird in solchen Fällen immer eine öffentliche Diskussion um die betreffenden historischen Personen oder Ereignisse geführt. In der Sowjetunion hingegen ist die Interpretation der Vergangenheit eine Parteiangelegenheit. Dort werden Personen wie Trotzki oder Stalin nicht von Historikern beurteilt, sondern vom Politbüro.
Dass unter derartigen Bedingungen die Wissenschaften verkümmerten, ist kaum verwunderlich. Dass der Bevölkerung damit jedoch die Möglichkeit der vorurteilsfreien Bewertung historischer Tatsachen genommen wurde, ist sehr bedenklich. Geschichtskenntnisse sind Voraussetzung, um politisches Urteilsvermögen zu erlangen und um den Rechtsanspruch der existierenden Gesellschaft in Frage stellen zu können. Die fehlende Geschichtsvermittlung hat zu einem kollektiven Gedächtnisschwund geführt, mit dem die Elite in großem Stil manipulierte. Der Partei war es dadurch gelungen, sich als die Verkörperung des Progressiven darzustellen, die Jugend zu Ergebenheit zu erziehen und das Streben der Unterklasse zu lenken. Historische Abläufe werden für die Bevölkerung derart verändert, dass kein Vergleich mit der Gegenwart möglich war. Der Unterklasse wurde vorgegaukelt, ihr ginge es niemals so gut ging wie jetzt, was sie der unfehlbaren Partei zu verdanken hätte. Die Interpretation der Vergangenheit geriet in Abhängigkeit zu den jeweils aktuellen Interessen der Oberklasse. Damit wurde versucht, die Bevölkerung am Erkennen des wahren Charakters der Gesellschaft zu hindern. Die meisten Sowjetbürger waren sich trotzdem darüber im Klaren, dass die Geschichte verfälscht wurde. Sie wussten nur nicht, worin die Verfälschung bestand. Über dieses Wissen verfügte nur die oberste Schicht der neuen Klasse.
Hat die Revolution von 1917 im Endeffekt zu positiven Veränderungen für die Unterklasse geführt? Als in der besitzenden Schicht Zeichen von Schwäche sichtbar wurden, zog die Mittelklasse Nutzen aus dieser Situation und schlug zu. Sie lenkte geschickt die revolutionäre Energie der Unterklasse auf die schwachen Stellen der Oberklasse und etablierte sich selbst als neue Führungsschicht. Die Intellektuellen hatten damit die Hauptrolle in der sozialen Komödie übernommen. Der Klasse, die ihr dabei behilflich war, wurde die vertraute Rolle als Statist zugeteilt. Die neue Klasse konfiszierte jegliche Form von privatem Eigentum und beraubte die Bevölkerung der elementarsten Freiheitsrechte. Was die revolutionären Intellektuellen einst zu bekämpfen vorgaben, übernahmen sie nun selbst: den Staat, das Schulwesen, Forschungseinrichtungen, die zaristische geheime Staatspolizei, die Gefängnisse, Foltermethoden, den Gehorsam sowohl in der Armee als auch in den Fabriken. Indem die genannten Institutionen und Methoden der Machtausübung den Interessen der neuen Klasse angepasst wurden, bedienten sich die neuen Machthaber der Macht auf äußerst effektive Weise, waren sie doch nicht mit liberalem Gedankengut belastet, das bei ihnen Gewissensbisse hätte hervorrufen können. Die Errichtung der Diktatur war das Hauptziel der Revolution, das bereits im voraus verkündet worden war. Das hatte zur Folge, dass sie fest dazu entschlossen waren, jegliche Opposition niederzuschlagen. Die neue Klasse festigte ihre Stellung im Gesellschaftsgefüge auch durch eine geschickte Ausnutzung der sozialistischen Ideologie. Der Sozialismus wurde zur Ideologie einer neuen Ausbeutergesellschaft, die erkannt hatte, dass sich Reichtum und Privilegien leichter unter dem Deckmantel des Kollektivismus verteidigen ließen. Die Inbesitznahme des privaten Eigentums verlief wohl deshalb so erfolgreich, weil sie als Kollektivierung dargestellt wurde. Die ökonomische Ungleichheit wurde damit zementiert. Darüber hinaus kontrollierte nun der Staat die soziale Mobilität. Damit erwies sich der Sozialismus als eine geniale Erfindung der Intellektuellen. Insbesondere Lenins Elitetheorie war von unermesslichem Wert, da sie die Intellektuellen in ihrer Rolle als Führer des Proletariats rechtfertigte. Die Verfechter des Sozialismus konnten sich somit relativ leicht als Herren über die Volksmassen erheben. Für die Arbeiter bedeutete dies jedoch eine neue Versklavung. Dass der Sozialismus, die ideale politische Theorie für die Diktatur der Intellektuellen war, war für das Proletariat wohl kaum zu verstehen, geschweige denn zu beweisen. Die marxistische Lehre scheint ja auch auf den ersten Blick den Interessen der Unterklasse zu dienen. Und als die wenigen aufmerksamen und kritischen Beobachter den Betrug erkannten, war es bereits zu spät. Die Volksmassen waren mit sozialistischen Phrasen bombardiert worden. Sie befanden sich in einem mit marxistischen Parolen vernebelten Zustand und ohne Verteidigungswaffen. Sie waren dadurch außerstande ihr rechtfertiges Streben nach Freiheit fortzusetzen. Ihr Erkenntnisvermögen und ihre Handlungsfähigkeit waren gelähmt. Im Gegensatz zu ihren westlichen Klassenbrüdern mussten sich die Arbeiter mit einem niedrigeren Lebensstandard, schlechteren Arbeitsbedingungen und weniger Bewegungsfreiheit zufrieden geben. Elementarer bürgerlicher Rechte, beispielsweise des Rechts auf freie Meinungsäußerung oder des Organisationsrechts, waren sie beraubt worden. In keinem anderen Teil der Welt wurden die Arbeiter so unmündig gemacht, wie dort, wo der Sozialismus gesiegt hatte. Nicht genug, dass die sozialistische Ideologie zur Ausbeutung der Arbeiter missbraucht wurde, sie stellte auch noch die theoretische Basis für die Verfolgung von Regimegegnern. Grausame und blutige Aktionen wurden im Namen des Sozialismus gerechtfertigt.
Читать дальше