Ein weiteres Augenmerk war das 'appoggio', was wir heute mit dem ominösen Begriff 'Stütze' übersetzen. Auch dazu sagte Prof. Sundberg im ausgehenden 20. Jh.: es ging um den Moment, wo die Luftsäule auf den Gegendruck der Stimmbänder trifft – einzig um diesen Moment. Wie der Sänger diese Luftsäule aufbaut, ob abdominal, inter-costal oder Beides – ist völlig irrelevant, weil individuell. Wir kennen alle diese Sätze: „Du atmest falsch!“
Die „ng“ - Zungenposition
Erstes technisches Merkmal ist die Position der Zunge: die alte italienische Schule lehrte schon immer die 'ng'-Position der Zunge (wie beim italienischen 'che' oder bei 'singen'), d.h., die mittleren Zungenränder berühren die oberen Backenzähne, die Zunge beschreibt also einen leichten Bogen, wobei die Zungenspitze an den unteren Schneidezähne ruht. Durch moderne wissenschaftliche Untersuchungen wissen wir heute, warum das schon immer gelehrt wurde: mit der Kamera kann man heute filmen, dass sich bei der flachgehaltenen Zunge der hintere Teil der Zungenmuskulatur in den Kehlraum drückt und diesen nahezu verschließt. Das Ansatzrohr wird also verengt. Diese Zungenposition ist für deutsche Sänger gewöhnungsbedürftig, weil sie die Vokale anders bündelt und unsere Tendenz zur Breitspannung deutlich wird. (Was die Ursache für die Verdickung der Mittellage, eben des 'deutschen Klanges' , ist.) Leider wird bei uns immer noch häufig die flache Zungenposition gelehrt, wohl aus der Überlegung heraus, dass in einem großen Mundraum auch ein großer Klang entsteht. Wir wissen aber, dass dieser große Klang hinter der Zunge in der geöffneten Kehle entsteht, und die modernen MRT-Aufnahmen haben das bestätigt.
Das 'u' und das 'a' als Grundvokal
Diese beiden Vokale gelten als Grundvokale der Stimmbildung, weil das 'u', im piano gesungen, immer die CT- Funktion aktiviert, während Vokalisen, die auf 'a' im forte basieren, immer die Vollschwingung (TA) aktivieren.Das heißt, auch wenn die Kehlkopfmuskulatur nicht direkt ansteuerbar ist, kann man doch mit der Wahl der Vokale bestimmte Funktionen hervorrufen, die dann auch so eintreten. Dies ist wiederum ein sehr individueller Vorgang, wobei der Sänger oder die Sängerin aber immer deutlich das Gefühl bekommt, eine eigene Technik zu gestalten, die abrufbar ist.
Das Cuperto
Die italienische Schule kennt den bei uns üblichen Begriff des „decken“ der Stimme nicht, der aber aus dem Begriff 'cuperto' abgeleitet ist: dieses Wort ist im Italienischen veraltet und kann mit 'bedeckt' übersetzt werden.
Die deutsche Technik hat daraus eine muskuläre Beeinflussung der Höhe gemacht, es
ist aber immer nur eine akustische Alteration gemeint gewesen. Eine cuperto-Übung dient dazu, in der Höhe die Stimmbänder zusammenzuhalten, und nicht durch den ansteigenden Atemdruck auseinanderzusprengen, indem man dort die Randkantenfunktion etabliert, die aber immer eine Verbindung zur Vollstimme behält, womit ich in der Lage bin, die Stimme im einer Tonleiter bis in die tiefste Brustfunktion zu führen. Diese Art von Übungen sichern die absolute Höhe, weil die Stimmbänder so in die Luft gebettet und nicht von ihr bedrängt sind. Dies ist eine Voraussetzung für jede messa di voce – Übung.
Das passaggio
Ein Begriff, den ich selbst in meiner Ausbildung entweder gar nicht, oder wenn, nie klar vermittelt bekommen habe, und den ich heute für die wichtigste Funktion – wieder besonders in der Männerstimme – halte, und deren Beherrschung über die freie Gestaltung der Höhe entscheidet. In der deutschen Technik wird immer vom „Bruch“ gesprochen, der dann auf e'/f' für die Männerstimmen, Frauen entsprechend eine Oktave höher, angesiedelt wird. Wenn ich diesen Bruch in einer Stimme höre, habe ich aber lediglich die Gesetze des passaggios nicht beachtet, die schon vorher (b,h,c') beginnen. Im Bereich des passaggios (b-e' ungefähr) finden die größten Veränderungen in der Art der Schwingung der Stimmbandmuskulatur statt. In diesem Bereich schaltet die innere Kehlkopfmuskulatur von der schweren Vollschwingung auf eine leichtere Teilschwingung – für höhere Töne werden schnellere Schwingungen benötigt - daher wird die Muskelmasse reduziert. Da Männer einen größeren Kehlkopf als Frauen haben, müssen sie fünfmal soviel Masse umschichten, daher ist das Umschalten der Schwingungsarten bei ihnen auch viel schwieriger. Ein gut trainiertes Ohr kann diese Veränderung, eine Verschlankung des Kerns bei deutlicher Obertonverstärkung, genau heraushören.
Manuel Garcia legt sogar die Falsettfunktion unter das passaggio, und die Kopfstimme darüber, weil die reine CT-Funktion nicht in der Lage ist, die Stimmbänder zu schließen und daher über dem passaggio TA-Funktionen integriert werden müssen, um die Stimmbänder in Kontakt zu halten. Daher reichen unsere Begriffe von Bruststimme und Kopfstimme nicht aus, weil sie nur ein akustisches Phänomen beschreiben, und kein funktionales. Es würde den Sänger aber sehr verwirren, wenn er gesagt bekäme, er müsse jetzt über dem passaggio die Bruststimme einmischen, um die Stimmbänder zusammen zu halten (!) Haltloses Forcieren wäre hier die Folge.
Inalare la voce
Bedeutet wörtlich 'die Stimme einatmen', wir kennen auch den Begriff, 'die Stimme trinken'. Beides beschreibt ein Konzept, mit dem ich in die Lage versetzt werde, die Luft von den Stimmbändern wegzuhalten, indem in die Ausatmungsfunktion eine Einatmungstendenz geschaltet wird. Das Bild, dabei die Stimme zu 'trinken', statt sie hinauszutreiben, ist sehr hilfreich und ergibt wiederum einen spezifischen Klang. Neben anderen sind diese Aspekte wichtige Angelpunkte meiner Studioarbeit geworden, weil die Erfahrung zeigt, dass mit ihrer Hilfe die Stimme auf eine absolut sichere technische Basis gestellt wird, die auch in allen Stressituationen (Vorsingen, Aufnahmeprüfung, etc.) verlässlich und abrufbar bleibt. Jeder Kandidat, der auf der Suche nach einem guten Gesangslehrer ist, und sich von der Werbung 'Unterricht in Belcanto-Technik' angesprochen fühlt, sollte sich das Recht nehmen nachzufragen, inwieweit der betreffende Lehrer diese funktionalen Merkmale des Belcantos bennenen kann, und ob er Wege gefunden hat, sie auch im 21. Jh. zu vermitteln.
Wir Sängerinnen und Sänger müssen uns heute klar machen, dass die legendäre Ära des Belcanto mit dem Triumph der Kastraten einherging. Der Klang dieser Stimmen prägte das Klangideal seiner Zeit und auch wir modernen Sänger versuchen in unserer Technik ein Abbild dieses Klanges zu erfüllen. Daher sollten wir auch die gleiche Technik anwenden, denn in der Gestalt der Stimmbändern selbst und ihrer Funktion hat sich in den letzten 400 Jahren nichts verändert.
Was sich verändert hat, ist die Tatsache, dass die Kastraten durch physische Malträtierung in die Lage versetzt wurden, stimmlich eine völlig individuelle Freiheit zu erlangen, während wir heute bei relativer physischer Gesundheit oft psychischen Malträtierungen unterliegen, weil uns ein Klangideal von aussen aufgesetzt wird, was medial festgelegt ist und das jeder individuellen Entfaltung abhold ist.
Das Appoggio und die deutsche Stütze
Alle Schüler, die in mein Berliner Studio zum Unterricht kommen, Sänger wie Schauspieler, haben ein Anliegen gemein: sie haben das Gefühl, mehr über die Stütze lernen zu müssen. Alle sind sich einig darüber, dass das Stützen für eine professionelle Bühnenstimme notwendig ist und haben auch alle eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung, was das ist. Jeder hat oft ein eigenes Rezept, was ganz hilfreich ist, aber meistens auch nicht sicher abrufbar. Manchmal funktioniert es, oft auch nicht, und es scheint, dass man es nicht direkt in der Hand hat. Im Allgemeinen herrscht eher Unsicherheit.
Problematik des Begriffes 'Stütze.
Es scheint vor allem nicht klar zu sein, was das 'Stützen' eigentlich bewirkt und warum es notwendig ist. Ich benutze den Begriff nicht gerne in meinem Unterricht, weil er schon vom Wort her etwas statisches an sich hat und sehr preussisch klingt. In anderen Sprachen ist der Begriff klüger gewählt: im Englischen heißt es 'support', also eine 'Unter- stützung', das hat für mich etwas Leichtes, Helfendes. Im Italienischen, wo der Name ja herkommt, heißt es 'appoggiare la voce', also die Stimme 'anlehnen', für mich auch ein weicher, fließender Begriff.Jeweils ergibt sich die Frage, was wird unterstützt, und was wird wo angelehnt?Was wir als 'Stützen' bezeichnen, ist ein komplexer Vorgang, der nur einer einzigen Aufgabe dient: die bei der Ausatmung nach außen dringende Luft von den Stimmbändern fern zu halten.
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