Aber plötzlich dann (und unbegreiflich, doch geschehen: der Hunger hatte ihr brennendes Hirn selbst das vergessen lassen) – plötzlich war vor dem Spiegel die Erkenntnis über sie gekommen, das Wissen, daß er wohl gegangen, aber doch bei ihr geblieben war, ewig unverlierbar in ihr. Was dann geschehen war: das bettelnde Hocken in der Thumannschen Küche mit dem Schielen nach Idas Schnecken, die Austreibung, das tatenlose Warten hier im Durchgang – das hatte nur der Hunger gemacht, arglistiger Feind im Leib und Hirn, der sie hatte vergessen lassen, was nie vergessen werden durfte: dies in ihr.
Was war denn los mit ihr? War sie denn verhext und verzaubert?! Sie hatte es doch immer noch geschafft in ihrem Leben, die Mutter hatte sein mögen mit ihr so roh, wie sie nur konnte – ein paar Tränchen, aber weiter! Die liebenswürdigen Kavaliere mit den messerscharfen Bügelfalten auf der Mädchenjagd mochten nachher noch so gemein und geizig sein – die Zähne zusammen, aber weiter! Wolfgang mochte wiederkommen oder nicht wiederkommen – schlimm, traurig, böse … Aber zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie nur um der eigenen Person willen jeden Dreck gefressen – und jetzt sollte sie hier stehen, tatenlos, bestellt und nicht abgeholt – da zum ersten Male im Leben ein anderes auf sie angewiesen ist, auf sie ganz allein, und keine andere Frau auf der Welt kann sie ersetzen – einfach lächerlich!
Eine Fülle von Gedanken strömt auf sie ein, sie kann es alles gar nicht so schnell erfassen. Nachdem der Hunger ihren armen Kopf eine Zeit in Schwärze und vage Träume versenkt hat, macht er ihn jetzt überlebendig, ganz wach und klar: Es ist aber alles ganz einfach. Sie hat für jemanden zu sorgen, und da dieser Jemand in ihr ist, muß sie zuerst für sich sorgen – nichts ist selbstverständlicher. Alles andere findet sich dann schon.
Und während sie dies denkt, denkt sie auch schon anderes in ihrem Kopf. Sie macht Pläne, was sie zu tun hat, später, aber auch jetzt gleich. Und darum sagt sie plötzlich ganz klar und bestimmt: „Ja, es ist nett von Ihnen, daß Sie mir das Geld geben wollen. Ich kann es sehr gut gebrauchen. Danke schön!““
Der Diener sieht sie verblüfft an. Es ist nur der Bruchteil einer Minute vergangen, seit er sie daran erinnert hat, daß sie heute heiraten wollte. Der Diener Ernst kann nicht ahnen, welche Gedanken dieser eine Satz in ihrem Hirn wachgerufen hat, was alles sie in diesen wenigen Sekunden erlebte und plante. Er sieht nur die Veränderung in ihrem Gesicht, das plötzlich nicht mehr schlaff, das voller Leben ist, sogar Farbe hat es bekommen. Er hört plötzlich statt der zögernden, halblauten Sprache einen energischen Ton, fast schon Befehl. Ohne auch nur zu überlegen, hat er ihr das Geld in die Hand gelegt.
„Na, Fräulein““, sagt er überrascht und wieder leise geärgert, „plötzlich sind Sie ja so munter! Warum denn? Das Standesamt ist schon zu. Ich glaube wirklich, Sie haben einen sitzen.““
„Nein““, antwortet sie. „Mir fiel nur plötzlich etwas Gutes ein. Und daß ich Ihnen so komisch vorkomme, liegt nicht am Trinken. Aber ich habe nichts gegessen, ziemlich lange schon, und davon wird einem so komisch im Kopf …““
„Nichts gegessen!““ empört sich nun wirklich der Diener Ernst, der all sein Lebtage stets zur bestimmten Stunde seine bestimmte Mahlzeit gegessen hat. „Nichts zu essen! Aber so etwas sollte der junge Herr nun wirklich nicht machen!““
Sie sieht ihn an, mit einem halben, verlorenen Lächeln. Sie weiß, was in seinem Kopf vorgeht, was er denkt und voller Empörung fühlt, und sie muß über ihn lächeln. Denn dieses Mal, da der brave, wohlerzogene Diener Ernst, ergraut im Umgang mit den ersten Kreisen, wirklich einmal für sie Stellung nimmt und gegen den jungen Herrn, dieses Mal spürt sie so recht, wie weit Menschen voneinander leben. Der junge Herr hätte sie schlecht behandeln dürfen, er hätte sie betrügen dürfen, er hätte sie sitzenlassen dürfen – das alles hätte den guten Diener Ernst (und seine meisten Mitmenschen) nicht gar so sehr empört. Aber daß er ihr nichts zu essen gab –! Nein, so etwas tat man nun wirklich nicht!!
Er betrachtet sie mit gerunzelter Stirn, sie kann ihm ansehen, vor wie großen Entschlüssen er steht, da macht sie es ihm leicht. „Wenn Sie mir bloß ein paar Schrippen holen wollten!““ sagt sie. „Hier gleich um die Ecke ist ein Bäckerladen. Und dann brauchen Sie sich keine Sorgen mehr um mich zu machen. Sobald ich ein bißchen gegessen habe, komme ich schon zurecht. Ich habe einen Plan …““
„Natürlich hole ich Schrippen““, sagt er eifrig. „Und vielleicht sonst noch etwas, etwas zu trinken, Milch, ja?““
Er hastet davon, er geht in drei, vier Läden: Butter, Brot, Semmeln, Wurst, ein paar Tomaten … Er denkt nicht mehr an sein Geld, die Ersparnisse … Die Tatsache, daß ein Mensch Hunger hat, aber nichts zu essen, hat ihn ganz verwirrt. So etwas hätte der junge Herr nicht tun dürfen, denkt er immer wieder. Sie mag sein, wie sie will, aber hungern lassen – nein!
Er ist gelaufen, hat sich und die schläfrigen Ladeninhaber gehetzt, alles mußte eilig gehen, schnell. Am liebsten hätte er gesagt: Bitte, es ist nämlich für einen Menschen, der verhungert … – Aber nun, da er zurückkommt, steht er noch verwirrter: sie ist nicht da. Nicht im Torweg, auf der Straße nicht, auch nicht auf dem Hof. Sie ist fort!
Zögernd entschließt er sich, noch einmal zu der Thumann hinaufzusteigen, sicher nicht sehr gerne, denn diese hemmungslos Geschwätzige hatte für ihn eine gar zu fatale Ähnlichkeit mit Ihrer Exzellenz, Frau Generalmajor Bettina von Anklam. Aber er bekam nur die Ida zu sehen, halb schon gewerblich, halb noch häuslich bekleidet, was ihn ziemlich erschreckte. Und diese junge Dame erkundigte sich sehr ungnädig bei ihm, ob es wohl piepe in seinem Hirnkasten, denn: „Det Aas kommt mir nich wieder rin! Wenn die bloß schellt, hat se schon ’ne Schelle! Nee, wat sich solche Leute alles einbilden –!““
Diener Ernst steigt wieder treppab, geht wieder über die Höfe, kommt wieder in den Torgang.
Im Schatten des Torflügels steht niemand. Kopfschüttelnd geht er auf die Straße: nichts. Diese Tüten und Päckchen mit Lebensmitteln, diese Flasche voll Milch, das kann er doch nicht mit zu seiner Herrschaft nehmen. Fräulein sähe es sicher, und sicher erzählte Fräulein es Ihrer Exzellenz.
Er kehrt wieder um, baut seine Besorgungen im tiefsten, dunkelsten Winkel hinter dem Torflügel auf und geht endgültig ab, nicht ohne sich noch häufig umzusehen. Erst als er in der Untergrund sitzt, denkt er nicht mehr zurück, kann er wieder vorausdenken.
Was sage ich bloß Exzellenz –?!
Nach sorgfältiger Überlegung beschließt er, möglichst wenig zu sagen.
FÜNFTES KAPITEL: DAS GEWITTER BRICHT LOS
Der Oberwachtmeister der Schutzpolizei Leo Gubalke war erst gegen drei Uhr aus seinem Schrebergarten dicht beim Betriebsbahnhof Rummelsburg in die Wohnung Georgenkirchstraße zurückgekommen. Er hatte ausreichend Zeit, sich gründlich zu waschen und sich umzuziehen für den Dienst. Aber er hatte keine Zeit mehr, noch ein Schläfchen zu tun, wie er eigentlich gewollt hatte. Denn sein recht anstrengender Dienst ging von vier Uhr nachmittags bis morgens zwei Uhr, und es war immer gut, wenn man sich vorher ein wenig auf das Ohr legte. Es kam dem Dienst und vor allem den Nerven im Dienst zugute.
Oberwachtmeister Leo Gubalke ist ganz allein in seiner Zweizimmerwohnung. Die Frau ist schon seit dem Morgen im Schrebergarten (Kolonie Nordpol), die beiden Gören sind von der Schule direkt dorthin gefahren. Der Polizist hat sich die große Zinkwanne, die von seiner Frau sonst für die Wäsche benutzt wird, in die Küche geholt und schrubbt sich langsam und sorgfältig von oben her ab.
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