Die Thumannsche der oberen Zehntausend spricht weiter, immer weiter …
Der Hund schlief noch immer, auch die Katze schlief, noch schlief die Georgenkirchstraße.
Das Mädchen Petra Ledig stand in dem Torweg zu den Hinterhöfen des Hauses, im Schatten. Vor ihr flimmerte die Straße von weißer, erbarmungsloser Hitze; das grelle Licht tat in den Augen weh; was sie sah, verlor die Umrisse, schien zu zerfließen. Dann schloß sie die Lider, und nun kam Schwärze in ihren Kopf, Schwärze mit plötzlich aufflackerndem, schmerzendem Purpurrot.
Darein hörte sie Uhren schlagen – es war gut, so verging Zeit. Zuerst hatte sie gemeint, sie müsse irgendwohin gehen, etwas tun. Aber als sie fühlte, wie in den Augenblicken halben Dämmerns die Zeit verrann, wußte sie, daß sie nur hier zu stehen und zu warten hatte. Er mußte ja kommen, jeden Augenblick mußte er kommen, er brachte Geld mit. Dann würden sie losgehen, um die Ecke war ein Bäckerladen, daneben der Fleischer. Sie fühlt, wie sie hineinbeißt in die frische Schrippe: sie kracht, das gelblichbraune Äußere, ihre krosse Hülle zerbricht, kleine flache, spitze Splitter bleiben am Rande. Das Innere ist weißlich locker.
Nun schiebt sich wieder etwas Rötliches dazwischen, sie versucht es zu erkennen bei geschlossenen Augen, sie kann das auch, denn es ist ja nicht außer ihr, es ist in ihr, in ihrem Hirn: kreisrunde, kleine, rötliche Flecke. Was kann das nur sein –? Und plötzlich weiß sie: es sind Erdbeeren! Natürlich, sie ist ja weitergegangen, sie steht gar nicht mehr in dem Bäckerladen, sie ist in einem Gemüsegeschäft. In einem Spankorb liegen die Erdbeeren. Sie duften frisch, sie riecht es – oh, wie sie es riecht! Die Erdbeeren liegen auf grünen Blättern, die auch frisch sind … Es ist alles sehr milde und sehr frisch – nun läuft auch noch Wasser, ganz klar und kühl …
Mühsam reißt sie sich von ihrem Traumbild los, aber das Wasser läuft so eindringlich, es plätschert so, als habe es ihr etwas zu sagen. Langsam öffnen sich ihre Augen, langsam erkennt sie wieder den Torweg, in dem sie noch immer steht, die gleißende Straße – endlich den Mann vor sich, der etwas zu ihr sagt, einen ältlichen Mann mit gelbem, dürrem Gesicht und gelbgrauen Koteletten, einen steifen schwarzen Hut auf dem Kopf.
„Wie –?““ fragt sie mit Anstrengung und muß es noch einmal fragen, denn beim ersten Male gab es in dem dürren, vertrockneten Munde nur ein kleines, unverständliches Geräusch.
Mancher ist in der Zeit, da sie hier stand, an ihr vorübergegangen. Sah er wirklich die Gestalt im Torgang, beschattet vom offenstehenden Torflügel, ging er nur schneller. Es ist arme Gegend und blutarme Elendszeit, überall, zu jeder Tagesstunde stehen die Elendsgestalten von Frauen, Mädchen, Witwen, Hunger und Elend in den Gesichtern, die unmöglichsten Fetzen auf den Leib gezogen, der – allerletzte Rettung – noch einen Käufer finden soll. Die um ihre Rente gebrachten Kriegswitwen, die Arbeiterfrauen, denen der Wochenlohn auch des nüchternsten, des fleißigsten Mannes mit jeder Dollarentwertung aus der Hand gelistet wird, Mädchen, fast noch Kinder, die das Elend der kindlichen Geschwister nicht mehr ansehen können – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute schlagen sie die Tür ihrer Höhlen, in denen Hunger ihr Geselle, Sorge ihr Bettgenosse war – schlagen sie die Tür endgültig hinter sich zu und sprechen: „Jetzt tue ich es! Für was denn aufbewahren? Für ein noch größeres Elend? Für die nächste Grippe? Für Armenarzt und Armensarg? Alles flieht, eilt, hastet, verändert sich – und ich soll mich bewahren?!““
Da stehen sie, in jedem Winkel, zu jeder Zeit, frech oder verängstigt, geschwätzig oder wortlos, bittend, bettelnd: „Ach, nur eine Tasse Kaffee und eine Schrippe …““
Es ist arme Gegend, Georgenkirchstraße. Der Kassierer der Gasgesellschaft, der Zwischenmeister der Konfektion, der Briefträger – sie gingen nur ein wenig schneller, als sie das Mädchen sahen. Sie verzogen nicht das Gesicht, kein freches Wort, kein Scherz, kein Gedanke an Mätzchen. Nur schnell weiter und vorbei, damit nicht ein Wort, ein Flehen, ein doch zu Herzen gehendes Flehen jenes Herz zu einem Geschenke verführt, das nicht gegeben werden darf. Denn auf jeden wartet zu Haus die gleiche Sorge, jedem im Nacken hockt der böse Gnom – wer weiß, wann meine Frau, meine Tochter, mein Mädchen so stehen wird, im Schatten des Torflügels den ersten Tag, bald aber auf heller Straße! Nichts gesehen haben und vorbei, kein Murmeln erreicht unsere Ohren. Allein bist du, allein bin ich, allein sterben wir alle – rette sich, wer kann!
Aber nun ist eben doch einer vor Petra stehengeblieben, ein älterer Herr mit Melone, gelblichem Eulengesicht und gelben Eulenaugen.
„Wie –?““ hat sie schließlich ganz deutlich gefragt.
„Na, Fräulein!““ Er schüttelt ein bißchen mißbilligend den Kopf. „Ob hier Pagels wohnen?““
„Pagels –?““ Er will also nicht so etwas, er fragt nach Pagels. Pagels, mehrere Pagels, mindestens zwei. Sie möchte verstehen, wer das ist, was er will, vielleicht ist es für Wolfgang wichtig … „Ja –?““ Sie versucht, sich zusammenzunehmen, dieser Herr will etwas von ihnen. Er darf nicht erfahren, daß sie zu Wolfgang gehört, sie, die so im Torweg steht. „Pagels –?““ fragt sie noch einmal, um Zeit zu gewinnen.
„Ja, Pagels! Na, Sie wissen es wohl nicht! Bißchen getrunken, was?““ Er zwinkert mit den Augen, er scheint ein ganz gutmütiger Mann zu sein. „Müssen Sie nicht tun, Fräulein, am Tage. Abends meinethalben. Aber am Tage ist es ungesund.““
„Doch, Pagels wohnen hier““, sagt sie. „Aber sie sind nicht da. Sind beide weggegangen.““ (Denn er darf nicht hinauf zur Thumann – was würde er da alles zu hören bekommen, es könnte Wolfgang schaden!)
„So? Beide weggegangen? Wohl zur Trauung, wie? Dann müssen sie aber zu spät gekommen sein. Das Standesamt ist schon dicht gemacht.““
Auch das weiß er! Wer kann es bloß sein? Wolfgang hat immer gesagt, er hat keine Bekannten mehr.
„Wann sind sie denn weggegangen?““ fragt der Herr wieder.
„Vor einer halben Stunde. Nein, schon vor einer Stunde!““ sagt sie hastig. „Und sie haben mir gesagt, sie kommen heute nicht wieder.““
(Er darf nicht zur Thumann hinauf! Nur nicht!)
„So, haben sie Ihnen das gesagt, Fräulein?““ fragt der Herr, plötzlich mißtrauisch. „Sie sind wohl befreundet mit Pagels?““
„Nein! Nein!““ protestiert sie hastig. „Sie kennen mich nur vom Sehen. Es ist nur, weil ich hier immer stehe, daß sie es mir gesagt haben.““
„So …““, sagt der Herr nachdenklich. „Na, dann danke ich auch schön.““ Und er geht langsam durch den Torweg auf den ersten Hof.
„Ach bitte!““ ruft sie mit schwacher Stimme, geht sogar einige Schritte hinter ihm her.
„Was denn noch?““ fragt er, dreht sich um, geht aber nicht wieder zurück. (Er will durchaus hinauf!)
„Bitte!““ sagt sie flehentlich. „Das da oben sind so schlechte Leute! Glauben Sie nicht, was Ihnen die von Herrn Pagel sagen. Herr Pagel ist ein sehr feiner, ein sehr anständiger Mann – ich, ich habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt, ich kenne ihn wirklich nur vom Sehen …““
Der Mann steht mitten im grellen Sonnenschein auf dem Hof. Er sieht scharf zurück auf Petra, aber er kann sie sicher nicht genau erkennen, wie sie dasteht im dämmrigen Torweg, eine leichte, schwache Gestalt, den Kopf ein wenig vorgebeugt, die Lippen halb geöffnet, gespannt nach der Wirkung ihrer Worte ausschauend, die Hände flehentlich auf die Brust gelegt.
Er reibt den gelbgrauen Bart nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger; nach einem langen Überlegen sagt er: „Keine Angst, Fräulein. Ich glaube auch nicht alles, was mir die Leute erzählen.““
Читать дальше