„Findest du das fair? Ich meine John gegenüber? Er macht sich bestimmt jedes Mal Hoffnungen. So wie auch damals auf der Highschool. Er weiß doch auch, dass du nur Paul willst.“
„Nein, John freut sich doch, mit mir auf den Ball zu gehen. Außerdem ist er erwachsen und weiß, dass Paul und ich zusammen sind“, entgegnete Sharadon. Aber seit heute war sie in Bezug auf Paul nicht mehr so sicher. John war zwar nur der Notnagel gewesen, aber Paul war nicht zu bewegen gewesen, mit ihr auf den Ball zu gehen. Und zu diesem Zeitpunkt war von dieser Unbekannten noch keine Spur gewesen. Dass er diese Fremde zu dem Ball mitbringen würde, konnte sich Sharadon aber nicht vorstellen. Schließlich war der Ball das gesellschaftliche Ereignis des Jahres im Tal und alle einflussreichen Familien waren dort vertreten. Und es stimmte schon, dass die meisten Verlobungen des Jahres dort verkündet wurden: Begleitung hieß gleich spätere Ehefrau. Deshalb fand es Sharadon noch ärgerlicher, dass sie mit John dort auftauchen musste. Sie wollte zumindest den Zeitpunkt für ihren Aufritt bestimmen und mit Sorgfalt festlegen. Sie griff kurz entschlossen zum Telefon und rief Sean an, Pauls jüngsten Bruder: „Hey, Sean, wann seid ihr auf dem Ball?“, flötete Sharadon in den Hörer; schließlich war auch Sean ein Verehrer, der seit Jahren hingehalten wurde.
„Warum ist das wichtig? Wir kommen doch jedes Jahr pünktlich zu der Eröffnung. Du kennst doch Pa. Der weicht von seinen Gewohnheiten nicht ab“, wunderte sich Sean über den Anruf.
„Ach ja, ich weiß, aber es hätte in diesem Jahr doch mal eine Abweichung geben können. Ist Paul auch in eurem Tross?“, fragte Sharadon so beiläufig wie möglich.
„Nein, Paul ist schon seit einer Stunde unterwegs. Soviel ich weiß, geht er in diesem Jahr gar nicht auf den Ball. Hat er dir das nicht auch beim Rodeo gesagt?“, Sean war erstaunt.
„Das schon, aber du kennst doch Paul. Er ist oft erst dagegen und dann ändert er seine Meinung. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass deine Mum ohne ihre drei Söhne auf dem Ball erscheint.“
„Ach Gott, das ist lange her. Das waren doch noch die College-Zeiten. Simon und Alicia konnten ohnehin diesmal nicht aus Boston kommen. Nein, Mum ist es inzwischen egal“, lachte Sean.
„Okay, dann sehen wir uns ja nachher. Bis später!“. Sharadon beendete abrupt das Telefonat und legte auf, ehe Sean sie nach ihrem Begleiter fragen konnte. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, ich hätte mich mit Sean zu dem Ball verabredet, dachte sie.
„Und nun?“, Sabrina blickte ihre Schwester fragend an, “Was hat dir das Telefonat eingebracht? Bist du jetzt schlauer in Bezug auf Paul?“
„Eigentlich nicht, angeblich kommt er nicht. Dann ist es auch ziemlich egal, wann ich erscheine und es reicht, wenn wir mit Dad zur Eröffnung da sind“, sagte Sharadon. Mit John war sie ohnehin so verabredet, dass er sie pünktlich für die Eröffnung abholte. Wo war Paul nur? Und mit wem? Letzteres konnte sie nur vermuten. Aber er schien wohl tatsächlich nicht auf den Ball zu kommen. Sharadon entschied sich für ein meergrünes Ballkleid aus schimmernder Seide, das mit Goldfäden durchwirkt war und ihre goldblonden Locken wunderschön zur Geltung brachte. Das Kleid war schmal geschnitten und betonte ihre schlanke, hochgewachsene Figur und die grünen Augen. Gekonnt unterstrich Sharadon ihre Augenfarbe mit Lidschatten. Zu dem Kleid trug sie passenden Goldschmuck und Seidenschuhe in grün. Ihre Lockenpracht floss offen über den Rücken und sah phantastisch aus.
Sabrina entschied sich für ein himmelblaues Kleid aus Organza, passend zu ihren hellen, blauen Augen. Das kurze blonde Haar hatte sie mit Gelschaum in Form gebracht.
Als die Mädchen herunterkamen, wartete Charles bereits im Salon auf seine drei Töchter. Die Jüngste, Jessie-Blue, hatte so lange gebettelt, bis er ihr erlaubt hatte, mit auf den Ball zu gehen. Wie immer hatte Charles seiner Tochter den Wunsch nicht abschlagen können.
Jessie trug ein schlichtes, tiefblaues, tief ausgeschnittenes Ballkleid, das ihre blauen Augen wunderbar betonte. Ihr blondes Haar hatte sie mit Kämmchen seitlich hochgesteckt.
Wie auf Kommando führte Christina, die Haushälterin und Köchin der Ranch, John in den Salon. John begrüßte Charles.
„Hallo, Charles, schön dich zu sehen. Ich habe dich wohl auf dem Rodeo verpasst?“, fragte er und schüttelte Charles die Hand.
„Nein, ich war in diesem Jahr gar nicht dort. Ich hatte hier zu tun“, erwiderte Charles und zog eine Augenbraue hoch. Wieso war John hier? Ging Sharadon etwa mit John auf den Ball? Oder war es Sabrina? Bis eben war er davon ausgegangen, dass Sharadon mit Paul verabredet war! Was war denn hier los? Hatte er etwas verpasst? Schließlich ging nicht nur er davon aus, dass Paul und Sharadon heiraten würden und der heutige Abend perfekt für eine Verlobung wäre.
„Hallo John, wie geht es deinem Vater? Du gehst mit Sharadon auf den Ball?“, fragte Charles und bemühte sich, sein Erstaunen nicht allzu offenkundig zu zeigen.
„Dad lässt schön grüßen. Du siehst ihn ja auf dem Ball. Ja, und ich freue mich, mit dem schönsten Mädchen des Tals zum Ball zu gehen; wobei ihre Schwestern nicht minder schön sind“, entgegnete John freundlich Sabrina und Jessie. Dann trat er auf Sharadon zu, um ihren Arm zu nehmen.
Sharadon ergriff Johns Arm, sie wusste, dass sie an diesem Abend die schönste Frau sein würde. Das Erstaunen und die Missbilligung ihres Vaters waren ihr nicht entgangen. Charles mochte John, aber er war für seine Älteste einfach nicht der richtige Mann. Was soll es, ich kann es im Moment nicht ändern, dachte Sharadon und zuckte innerlich mit den Achseln.
„Dann wollen wir mal los, um die Eröffnung nicht zu verpassen“, rief Charles seinen Töchtern und John zu, wobei sich seine beiden jüngeren Töchter lachend bei ihrem Vater unterhakten. Fröhlich plaudernd verließen die Beringers das große Haus.
Wie immer in solchen Momenten, vermisste Charles seine Frau. Susan war im vorletzten Jahr bei einem Reitunfall auf der Ranch ums Leben gekommen. Die Ärzte hatten wochenlang um das Leben seiner Frau gerungen, während sie im Koma gelegen hatte. Doch alle ärztliche Kunst und alles Geld hatten am Ende nichts bewirkt. Susan war nicht mehr aufgewacht. Aber selbst wenn sie überlebt hätte, wäre sie querschnittgelähmt geblieben. Sicherlich war die Ehe mit ihr nicht immer einfach gewesen. Susan hatte sich auf der einsam gelegenen Ranch in Montana oft gelangweilt. Sie stammte aus einer angesehenen Familie aus New York, war eine geborene Palmerton und die einzige Tochter ihrer Eltern gewesen. Diese waren immer noch untröstlich über den Verlust ihrer Tochter und es war fraglich, ob sie je über ihren Tod hinwegkommen würden. Im Stillen machten sie Charles für ihren Tod verantwortlich und waren seitdem nie wieder in Montana gewesen, auch die drei Enkeltöchter hatten es nicht vermocht, sie hierher zu locken. Sharadon war Susan zudem wie aus dem Gesicht geschnitten und trotzdem oder gerade deswegen war sie kein Trost für ihre Großeltern. Susan war den Mädchen eine gute Mutter gewesen und oft fehlte sie einfach als Gesprächspartnerin. Vordergründig kamen die Mädchen mit dem Verlust der Mutter zurecht; aber Charles wusste, dass Susan ihnen genauso oft fehlte wie ihm. Besonders die Jüngste, Jessie-Blue, hatte sehr unter dem Tod ihrer Mutter gelitten.
Charles schüttelte seine düsteren Erinnerungen ab und stieg mit Sabrina und Jessie in den Mercedes, während Sharadon mit John in dessen Jeep einstiegen. Nach einer halbstündigen Fahrt waren sie in der Stadt und suchten vor der City-Hall nach einem Parkplatz.
John hatte durchaus bemerkt, dass Charles über ihn als Begleiter von Sharadon nicht begeistert war. Während der ganzen Fahrt nach Ridgerock herrschte Schweigen im Auto, doch als sie auf dem Parkplatz hielten, wollte John es von Sharadon hören.
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