Die rote Gestalt erhob den rechten Arm. Auf jenes Zeichen hin trieb der Stab zurück in die geöffnete Hand. Hart schlug dieser auf der getroffenen Fläche auf, bevor der Gewandete das abgenutzte Holz schnaufend umfasste und sich augenblicklich daran hinauf zog.
Nur langsam trugen ihn seine wackligen Beine auf das gegenüber liegende Podest hin. Dort angekommen lüftete er die Kapuze und legte seine, darunter verborgen gelegene, deformierte Fratze frei. Das Linke seiner beiden Augen lag nach hinten versetzt und schielte blind auf die Welt vor sich. Das Zweite, Gesunde, in dem der Wahnsinn wütete, fixierte seine Anhänger. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, während der Speichel in seinen Mundwinkeln das Licht der vereinzelten Kerzen reflektierte. »Ich bin stolz auf Euch, meine Getreuen. Stolz auf das, was wir schon erreicht haben und auf jenes, was wir in naher Zukunft noch erreichen werden!«
Bei diesen Worten verdrehte sich sein linkes Auge unnatürlich weit, während ein tief grollendes Lachen sich durch seine Kehle zwang, in das die anderen Gestalten mit einstimmten. »Unsere Zeit ist nah!«, schrie er euphorisch in die Versammlung. Johlen ergoss sich als Antwort über sein Gefolge und durchflutete die schmalen Gänge.
Einmal mehr thronte ein Lächeln auf seinen Lippen, als er sich von der feiernden Masse abwandte. »Bald sehen wir uns wieder«, dachte er und wischte sich den bereits am Kinn herab geflossenen Speichel flüchtig mit dem Saum seines Ärmels ab.
Es bedurfte einiger Zeit, bis die gebeugte Gestalt endlich vor der schweren Eichentür stand, die ihn als letzte Hürde von seinem Gemach trennte. Seufzend entließ er den Stock seiner Hand und begann den schmerzenden Körper gegen das dunkle Holz zu pressen. Nur langsam gab jenes nach und schwang widerwillig auf.
Haltsuchend, fasste er hektisch nach dem großen, handgeschmiedeten Eisenring, der an der modrig riechenden Tür angebracht war. Dabei schob er sich durch den schmalen Spalt, hinein in das abgedunkelte, wenig einladende Zimmer. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, die Türe hinter sich zu schließen, aber ließ es sein. Dafür fehlte ihm in jenem Moment einfach die Kraft. Zudem hatte er nichts zu befürchten hinter den monumentalen Mauern, welche sein Gefängnis seit jeher formten.
Er gestand sich eine kurze Rast ein, in der er, Sicherheit suchend, seinen Stab zu sich rief und mit den Fingern umschloss. Nachdem er einige Atemzüge gemacht hatte, wandte er sich um und setzte den Weg auf den alten, abgenutzten Sessel in der Ecke des Raumes fort.
Zitternd umfasste er dessen abgegriffene Lehne und ließ sich langsam herabsinken. Entgegen seiner Anstrengung verließ ihn auf den letzten verbleibenden Zentimetern der Rest seiner verbliebenen Kräfte.
Das entstellte Gesicht verzog sich zu einer finsteren Grimasse, als er endlich sitzend, den Stab zur Seite feuerte, um seinem Ärger Luft zu machen. Wie sehr hasste er seinen Körper. War dieser doch jeher der Nährboden des Spotts gewesen, dem er immerfort ausgesetzt war. Stumm musste er die tagtäglichen Verletzungen ertragen, nur weil seine Mutter ihren Lastern nichts entgegnen konnte und ihn mit ihrem eigenen Bruder gezeugt hatte. »Hure!«, entfuhr es ihm, von Hass bestärkt. In ihm gärte es und Galle stieg seinen Hals hinauf. Sie alleine trug Schuld an seinem abstoßenden Äußeren, den täglichen Hänseleien seiner bloßen Existenz. Selbst seine mit zehn Jahren erlangte Fähigkeit Magie zu nutzen, änderte nichts an der Position am Rande der Gesellschaft. Selbst für Hagar, der sich damals freiwillig meldete, nachdem kein anderer seiner Brüder sich dazu durchringen konnte ihn zu unterrichten, hatte er nur eine verabscheuungswürdige Kreatur geboten. Noch immer begleiteten Grindelwald die angeekelten Blicke seines glatzköpfigen Mentors in den spärlich gesäten Träumen.
Schwer unter seinen Erinnerungen wiegend, sank der Körper im Polster des Stuhls ein, als er seine Ellenbogen auf die hölzernen Lehnen stemmte und die Hände vor seiner Stirn faltete. Müde lehnte er seinen Kopf nach vorne über, so dass seine Stirn die Finger berührte. Er atmete schwer.
Kälte kroch die Beine hinauf und hüllte seinen Körper langsam ein. Dabei trieb er in einen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Das plötzliche, leise Scharren jedoch, welches aus der Ecke auf ihn zu drang, erlangte seine Aufmerksamkeit. Er öffnete die Augen.
»Die Mitglieder warten auf ein Wort. Sie fragen, wann es wieder so weit sei zusammenzutreffen.« Noch immer im Sessel sitzend, winkte Grindelwald die blonde Gestalt zu sich heran, welche seiner Geste folgend zu ihm trat, um sich vor ihm zu verbeugen. »Sag ihnen, dass sie sich in zehn Tagen erneut hier einfinden sollen, Merin. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, sind wir ihrer Rückkehr doch schon so nahe.« Merins goldene Augen funkelten von Vorfreude übermannt, als er sich erneut, jedoch tiefer als nötig verbeugte. »Sag ihnen auch, dass wieder ein Opfer benötigt wird ... und dieses Mal sollte es kein daher gelaufener Ziegenbock sein.« Merin zuckte schuldig zusammen »Ja, ich habe verstanden. Vergib mir. Ich werde das nächste Opfer sorgsamer auswählen.«
»Das hoffe ich für dich, Merin. Das hoffe ich wirklich. Enttäusche mich nicht noch einmal.« Grollendes Lachen ergoss sich durch das handgeschlagene Fenster ins Rauminnere und ließ den blonden Gestaltwandler just zusammenfahren. Er erkannte die Stimme sofort und spannte seinen Unterkiefer an. »Was bildete sich der Hühne ein?«, dachte er wutschnaubend.
»Das wäre dann alles, Merin«, zischte Grindelwald erbost, während sein gesundes Auge aus dem Fenster starrte. Er mochte es nicht belauscht zu werden, egal von wem.
Merin, der seine Aufmerksamkeit wieder auf den Magier vor sich gelenkt hielt, folgte dem unausgesprochenen Befehl und glitt lautlos zurück in den Schatten, aus dem er gekommen war.
»Du bist und bleibst ein Risikofaktor, aber auch der Schlüssel zum Ganzen«, raunte der Magier vor sich hin, während seine Finger liebevoll das Holz des Stabes hinauf und herabfuhren. Etwas musste er jedoch zugeben. Ohne die schnelle Auffassungsgabe des Gestaltwandlers an jenem Tag hätten sie keine weitere Chance bekommen. Dennoch stieg Wut in Grindelwald auf, als er sich an das damalige Ereignis erinnert fühlte und die rechte Hand vor sein gesundes Auge hob. Sein Blick glitt dabei über den schlecht verheilten Stumpf, an dessen Stelle sich sein Zeigefinger hätte befinden sollen. Er erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewesen, an das Hochgefühl, welches ihn damals übermannt hatte, bevor die Situation ihm aus den Händen geglitten war.
Merin war schnell gewesen, er jedoch auch. Seine geistesgegenwärtige Handlung, den verwesenden Finger Liliths Geist hinterherzuwerfen, hatte ihm so eine Hintertür geschaffen, durch die er sich nun bereit sah zu treten, um seine Ziele endgültig erreichen zu können.
Ein schiefes Grinsen legte sich auf seine aufgeplatzten Lippen. »Meine liebste Lilith, schon bald wirst wieder an meiner Seite sein. Ich kann es kaum noch erwarten«, säuselte seine unheilschwangere Stimme, bevor sich ein wahnsinniges Lachen durch die Festung ergoss, sie ausfüllte und den berittenen Auszug der Getreuen in die Morgendämmerung übertönte.
Merin folgte den donnernden Hufen mit seinen Augen, bevor auch er die Zügel seines braunen, durchtrainierten Hengstes ergriff und über den Hof schritt. Sein Weg führte ihn hierbei an den Rand des Vorplatzes, direkt vor den tiefschwarzen, schattigen Durchgang, der seine Reise etwas verkürzen würde. So lange er sich hinter den Grenzsteinen aufhielt, welche das unwirkliche Land vom Reich der zehn Königreiche trennten, war es ihm möglich, seine Reisen durch die Schatten anzutreten. Hinter jenen allerdings war ihm dieses Privileg nicht mehr vergönnt. Zwar besaß er immer noch die Fähigkeit dazu, aber eine Ausführung würde die Aufmerksamkeit seiner Brüder mit sich bringen und jenes war etwas, das er sich nicht hatte leisten können, unter keinen Umständen.
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