Grindelwald, der sich zwischenzeitlich seinem Gegenüber zugewandt hatte, fixierte den stark untersetzten Magier in seiner mitgenommenen nachtblauen Robe, die zu dessen Gunsten den Großteil seiner Statur verdeckt hielt. Die filigranen Goldausarbeitungen an den Säumen des schweren Stoffes wirkten, trotz zahlreich gezogener Fäden überaus prunkvoll in ihrem Detailreichtum und verrieten Grindelwald dessen nunmehr hohe Stellung.
Hagar, der in seiner Bewegung nun endgültig innehielt und zwei Armlängen vor Grindelwald zum Stehen kam, reckte seinen Hals zum Zeichen, dass die von ihm ausgesprochene Frage noch immer einer Antwort bedurfte. »Es stand nicht in meiner Macht, sie aufzuhalten«, krächzte Grindelwald, der Schuldigkeit heuchelnd, sein Haupt gesenkt hielt und den rot getränkten, schlammigen Boden unter sich zu mustern begann. Noch immer glich sein Geist einem leeren Gefäß, als er die Augen schloss und seine ganze Energie darauf verwendete, einen leidenden Gesichtsausdruck zu imitieren.
Die erhobenen, dunklen Brauen Hagars schoben sich tief herab und verschmolzen mit der Dunkelheit seiner Augen. »Grindelwald, ich mag zwar alt sein, aber kein Narr. Wie also kannst du es wagen, mit mir wie mit einem Solchen zu reden?« Geräuschvoll sog Grindelwald den Speichel, der ihm über seine Lippe hinab rann, ein, als sein linkes Auge unkontrollierbar zuckte und sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. »Ich habe mich nur an den Kodex gehalten und nichts ...«
»Der Kodex, Grindelwald, sieht etwas anderes vor, als Untätigkeit. Vor allem dann, wenn unser Schicksal den falschen Weg für sich wählt, denn dann ist es an uns, ihn wieder auf den richtigen zu führen.«
Grindelwald hob seinen Kopf vorsichtig an und suchte den Blick seines alten Mentors.
»Was anderes hätte ich von dem auch nicht erwartet«, spuckte Rubens in die Versammlung, als jener die zwei Magier vor ihm rüpelhaft zu Seite stieß und mit großen Schritten auf Grindelwald zustürzte. »Habe ich es nicht von Anfang an gesagt? Man brauch sich nur einmal seine Augen anzusehen, dann erkennt man doch sofort die Absichten, die er hegt. Aber niemand wollte auf mich hören«, schnauzte er, während er sich wild gestikulierend an Hagar vorbei schob und seinen wild verdrehten Zauberstab durch die Luft warf.
Hagar, der nicht die Absicht hatte, sich von seinem Bruder vorführen zu lassen, griff nach dem Holz des wutentbrannten Magiers und machte es sich zu eigen. »Nicht, Rubens! Er ist immer noch unser Bruder, auch wenn seinen Taten fragwürdige Absichten unterliegen.« Der überraschte Blick des grünäugigen Waldelfen verlangte Grindelwald alles ab, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Er hatte Rubens niemals leiden können. Schon seit ihrem ersten Zusammentreffen. »Schlammhaut!«, zischte er tonlos, darauf bedacht, dass es kein Ohrenpaar je zu hören bekam.
Nachdem Rubens seine Fassung wiedererlangt hatte, ergriff seine grobgliedrige Hand dessen graumelierten Kinnbart. Dieser knackte strohig unter den massierenden Fingern und ließ Grindelwald sich an den Ziegenbock seiner Mutter erinnern. Die tief in seinem Schädel zurückgezogenen Augen des Waldelfen musterten, die Abneigung plakatierend, seinen Bruder, bevor er sich Hagars Äußerung geschlagen gab, und einige Schritte zurück, hinter diesen trat. Als Belohnung erhielt er seinen Stab zurück und schloss seine dunklen Finger darum.
»Was nun?«, wandte sich Hagar an die verbleibenden Brüder. »Wir sollten es beenden! Hier und jetzt!«, donnerte es aus den hinteren Reihen. »Nein, er ist unser Bruder. Wir müssen eine andere Lösung finden!«, stellte sich eine schiefe Stimme vom anderen Ende der Versammlung, der Hinteren in den Weg. »Ach, so etwas verdient keine andere Lösung! Er verdient das, was das Gesetz vorsieht!«
»Eine wundervolle Lösung Rubens. Kannst du mir auch sagen, wie du das anstellen willst? Wir können nicht sterben und das weißt du auch.«
Der Angesprochene zog geräuschvoll die Nase hoch, bevor er seinen Stab losließ, welcher folgend der Magie geleitet, an dessen Seite schwebte. Rubens wandte sich Nathan zu. Kurz darauf bahnte sich der emotionsgeladene Magier bereits seinen Weg in Richtung des schief grinsenden Alben, der sich seine Bestätigung durch die zahlreich nickenden Brüder holte. »Du hast gut reden. Schlag du doch etwas vor! Mach dich einmal im Leben nützlich und sag uns, was wir tun sollen!«
Bei jeden seiner sauer aufgestoßenen Worte schubste Rubens den eingefallenen Magier in seiner grauen, grob gewebten Robe durch die Versammlung. Dieser riss erschrocken seine Augen auf. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle. »Dachte ich es mir doch. Große Worte und nichts dahinter. Was sollte man auch mehr von einem verweichlichten Alben erwarten?«
»RUBENS!«, donnerte Hager, der sich seinen Weg durch die Masse aufeinander einredender und beschimpfender Magier bahnte. »Nun ist aber genug!«
»Genug, Hagar? Nein, noch lange nicht! War es nicht das Gelbauge Merin gewesen, der uns in den Rücken gefallen ist und sich mit Lilith davon gemacht hat? Wie kannst du das Geschehene leugnen? Wir alle haben es mit eigenen Augen gesehen.«
Hagar schwieg und verharrte regungslos ob des unbestreitbaren Vorwurfs, während Rubens sein neu gewonnenes Oberwasser auskostete und sich den Umstehenden zuwandte. Sein Blick glitt über die Anwesenden hinweg, als er an Hagar vorbei, auf Grindelwald zuschritt und mit der rechten Hand erneut seinen Stab umschloss. »Und ich wette um alles, was ich besitze, dass er mit diesem Monstrum unter einer Decke steckt!«
Bei diesen Worten streckte er seine freie Hand in Richtung Grindelwald aus, der unter der plötzlich aufgekommenen Aufmerksamkeit zusammenzuckte und seinen Blick erneut auf den Boden lenkte.
»Rubens, ich warne dich ein letztes Mal! Strapaziere nicht meine Geduld!« Grindelwald gefiel es in keiner Weise, in welche Richtung sich diese Unterhaltung entwickelte und zwang sich zu klaren Gedanken. »Willst du mir den Mund verbieten, Hagar? Nur zu, dann sehen es wenigstens alle! Du bist schon lange nicht mehr unparteiisch, Bruder. Vielleicht wäre jemand anderes für deinen Platz besser geeignet. Jemand, der nicht so blauäugig diesem Etwas da Vertrauen schenkt«, gab Rubens von sich, während er sich provozierend auf seine Fußspitzen stellte und sein behaartes Kinn Hagar entgegenstreckte. Zähflüssig zogen sich die Sekunden über die Szenerie, untermalt der Ausgelassenheit unter ihnen.
Nur langsam hoben sich Hagars Brauen an und die Müdigkeit ergriff sein Gesicht. Er war den ewigen Kampf leid, den Zwist, der hinter ihm lag und immer vor ihm liegen würde. »Was willst du, Rubens?«, presste er tonlos zwischen seinen schmalen Lippen hervor und drehte seinen Kopf in Richtung Grindelwald, der am Rande des Plateaus stand und ihm hilfesuchend entgegensah. Er könnte nie verzeihen, welchen Verrat sein einstiger Schüler begangen hatte, dennoch empfand er einen Anflug von Mitleid ob seiner gestraften Person. In einem Teil seines Ichs keimte jene väterliche Liebe, welche dessen Vertrauensbruch umso schwerer für ihn wiegen ließ.
Hagar legte seine faltige Hand auf das Gesicht und wischte über seine brennenden Augen, während Rubens stolz seine Brust anschwellen ließ und sich zwischen Grindelwald und den Magiern aufbaute. »Verbannung, sage ich! Ein Bruder, der nicht für unser Land ist, ist gegen unser Land! Fort mit ihm, hinter die westliche Grenze! Dort kann er meinetwegen sein Leben lang, bis zum Ende der Zeit hin, Ratten fressen und darüber nachdenken, was er getan hat.«
Hagar, der mit beiden Händen seinen Stab umfasst hatte, seufzte schwer unter den gesprochenen Worten. »Wer für Rubens Vorschlag ist, hebe nun die Hand.«
Ohne hinzusehen, wusste Hagar, dass Rubens Bestrafung bei jedem seiner Brüder auf Zustimmung gestoßen war. Grindelwalds Gesichtsausdruck, in dem das Entsetzen geschrieben stand, bestätigte seine Vermutung, dennoch wandte er sich von jenem ab und zählte laut die erhobenen Hände, welche sich entschlossen gegen den Himmel streckten. »Sechs ... Sieben«, seufzte er »und eine sich enthaltende Stimme.« Damit meinte er sich selbst.
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