„Eben nicht. Doch ich weiß, sie würde gerne, wenn sie könnte... Das ist ja auch der Grund, warum ich sie nicht belasten wollte. Es ist nämlich so: Gloria ist bereits seit fast 80 Jahren verflucht, über einem großen Teich schweben zu müssen und sich nicht außerhalb des Bereichs des Wassers dieses Teiches aufhalten zu können“, erzählte mir Astor. „Doch niemand käme auch nur auf die Idee, eine so wundervolle Person wie Gloria zu verfluchen. Das alles war nämlich ein Versehen. Der Fluch sollte gar nicht sie treffen, sondern ihren Liebsten, einen Waldgeist namens Loy. Es kam damals zu einem Streit zwischen Loy und einem Dämon, der ebenfalls in Gloria verliebt war, darauf bekämpften sie sich und verfluchten einander. Der Dämon wollte Loy bannen, doch Gloria warf sich vor ihren Freund und bekam so den Fluch ab. Nachdem Gloria dann festsaß und Loy nicht mehr helfen konnte, brachten sich Loy und der Dämon mit ihren Flüchen gegenseitig um, so erzählen es sich die Hortenser im Dorf. Es heißt, sie trägt Loys Zinnfigur, in die er sich nach seinem Tod verwandelte, ständig bei sich. Und jetzt ist die arme, unschuldige Gloria dort für immer gefangen, da nur der Dämon ihren Fluch hätte rückgängig machen können, wenn er noch leben würde. ...Oder vielleicht Pinienträne. Das hieße also, sie wäre deswegen vielleicht bereit, uns zu helfen.“
Während Astor über Gloria geredet hatte, glaubte ich erneut, zu fühlen, was er für Gloria empfindet, nämlich Liebe. Beinahe so viel, wie ich für meinen Chef empfand. Doch schon von weitem spürte ich die eisige Kälte in Glorias Herzen. Sie interessierte sich nie für einen anderen als Loy – und schon gar nicht für Astor, wie ich feststellte, als wir bei ihr ankamen. Gloria war schön. Mindestens so gutaussehend wie ich jetzt, wenn nicht noch hübscher. Mit ihrem hellblauen, transparenten, schlanken Körper schwebte sie mit unendlich traurigen Augen über dem Teich, wie der Geist einer Wasserleiche. Sie sah aus, als würde sie die Hälfte jedes Tages mit Weinen verbringen. Ich konnte ihre Trauer richtig fühlen, darum tat sie mir sehr leid. Ihre langen, welligen Haare und ihr weites Kleid wehten in der leichten Sommerbrise und sie hielt etwas in der Hand – eine kleine Zinnfigur, auf die ihr Blick gerichtet war. Sie sah nicht zu uns auf, als sie mit verbitterter Stimme sprach: „Was wollt ihr?“
„Ich grüße dich, Gloria. Ich bin Astor und das ist Lillian“, stellte Astor uns ihr vor. „Mein Name wird dir wohl nichts sagen, aber ich habe schon viel von dir gehört und dachte, dass du uns vielleicht helfen könntest. Wir sind nämlich auf der Suche nach Pinienträne. Weißt du vielleicht, wo man sie finden könnte?“
„Wenn ich das wüsste, würde ich hier wohl kaum festsitzen“, meinte Gloria darauf nur. „Warum sucht ihr sie?“
„Es ist so:“, begann ihr Astor zu erklären, „Lillian ist nämlich in Wirklichkeit ein Mensch und wurde in einen Hortenser verwandelt. – Bitte frag mich jetzt nicht wie das geht, da ich es selbst nicht weiß. Fakt ist, es ist passiert. Darum will sie Pinienträne finden, um wieder ein Menschen werden zu können.“
„Ich weiß durch meinen Onkel etwas über Pinienträne, was die anderen Hortenser nicht wissen“, gestand sie plötzlich. „Aber ich werde es euch nur unter zwei Bedingungen anvertrauen. Erstens, ihr müsst mir schwören, mich von meinem Fluch zu erlösen, solltet ihr Pinienträne finden. Und zweitens, damit ihr mich nicht reinlegt, indem ihr mich nicht befreit, wenn ihr Pinienträne habt, müsst ihr zuerst noch eine Möglichkeit finden, mich ins Dorf zu bringen. Ich sehne mich so danach... fast 80 Jahre lang war ich nun nicht mehr dort. Nur wenn Hochwasser ist, komme ich gelegentlich dazu, es von weitem erblicken zu können...“
„Einverstanden!“, erklärte ich mich bereit dazu, doch Astor schien in Sorge zu sein, solch eine schwierige Aufgabe bewältigen zu können. Dann gingen wir, da Gloria wohl allein sein wollte... allein mit Loy, wie schon so lange...
Auf dem Weg zurück überlegten Astor und ich, wie wir Gloria ins Dorf holen könnten, doch uns fiel nichts ein. Er seufzte. „Das ist unmöglich! Keiner kann einen Fluch brechen, den er nicht selbst auferlegt hat. Es ist hoffnungslos. Wir müssen Pinienträne anderswie finden.“ Nun ließ auch ich den Kopf hängen. Astor kannte sich viel besser in Emmerald aus als ich. Er musste es ja wohl wissen.
In diesem Moment ging ein Hortenser an uns vorbei. An seiner Kleidung waren dutzende von matt-silberfarbenen Zierknöpfen festgenäht, in die verschiedene Muster und Symbole eingeritzt waren.
„Astor, was haben diese matt-silberfarbenen Metallanhänger mit den verschiedenen Formen, eingeritzten Mustern und Symbolen eigentlich zu bedeuten?“, ergriff ich nun endlich die Gelegenheit, zu fragen, bevor wieder etwas dazwischen kommen würde und es mir erneut entfallen könnte.
„Ach, du meinst diese hier?“ Astor ergriff seinen Anhänger am Gürtel. „Das sind Glücksbringer. Die gibt es überall, hier in Emmerald und weil sie alle handgemacht sind, gibt es keinen von ihnen zweimal. In der Menschenwelt trägt man doch auch Schmuck. Also hier gibt es fast keinen anderen Schmuck als diese Anhänger - und sie sind billig, im Gegensatz zu Gold, Silber, Edelsteinen und Perlen, welche sich hier kaum einer leisten kann, einzutauschen. Manche von ihnen haben auch eine glatte Oberfläche, so wie die Knöpfe des Hortensers von gerade eben. Die sind dann aber auch schon ziemlich teuer.
Deine Halskette sieht übrigens auch so ähnlich aus, jedoch kann sie unmöglich von einem Hortenser hergestellt worden sein, so wunderbar wie sie geformt ist, so gleichmäßig und mit dieser unglaublich glatten Oberfläche. Außerdem ist der eingeritzte Baum makellos. Also ich würde sagen, sie wurde von Maschinen von Menschen gefertigt.“ Astor hatte Recht: Mein Anhänger ähnelte dem seinen nur von weitem. Nicht nur, dass die Farbe sich ein klein wenig unterschied, meiner war auch viel schöner und feiner bearbeitet worden. Sein eingeritzter Hirsch dagegen, hatte so einige Makel aufzuweisen und auch die sechseckige Form war nicht gleichmäßig und symmetrisch.
„Was für ein Material ist das eigentlich?“, interessierte es mich nun.
„Es ist aus einem Material, welches jeder von uns besitzt: Zinn. Einige stellen sich ihre Anhänger darum selbst her, indem sie sich absichtlich verletzen und ihn dann mit dem flüssigen Zinn aus ihrer Wunde gießen. Dazu braucht man aber eine geeignete Oberfläche, die die Hitze von flüssigem Zinn standhält. Wenn es dann langsam eine Kruste bildet, kann man es noch kurz bearbeiten. Man muss schnell ein Muster einritzen, bevor es hart wird. Viele Hortenser tragen aber auch Anhänger aus dem Zinn ihrer Eltern, Verwandten, Freunde und Vorbilder - oder einfach das ihrer Geschäftspartner“, erklärte mir Astor.
„Wie?! Ihr blutet Zinn?!“, wunderte ich mich.
„Wie nennst du es? Blutet? Ach, stimmt ja... hätte ich fast vergessen... Ihr Menschen gebt ja eine andere Substanz aus euren Verletzungen ab. Sie ist rot und flüssig...“, sinnierte er.
„Ja, Blut eben“, unterbrach ich ihn.
„Blut...“, wiederholte er.
„Aber kann man sich am flüssigen Zinn denn nicht verbrennen?“, wollte ich wissen. „Immerhin muss das Zinn eine riesige Hitze erreicht haben, damit es sich verflüssigt. Fast 300°C!“
„Solange das Zinn in einem lebendigen Körper ist liegt ein Zauber darauf, der es bei normaler Körpertemperatur flüssig hält. Erst wenn es aus der Wunde austritt normalisiert es sich auf die herkömmliche Hitze von flüssigem Zinn. Doch unserer Haut fügt es dann trotzdem noch keinen Schaden zu. Durch einen uralten Zauber, der auf jedem hier in Emmerald liegt, auch auf den Tieren und sogar noch, wenn Hortenser in die Menschenwelt gehen, können wir uns nicht an flüssigem Zinn verbrennen. Bei jedem anderen flüssigen Metall verbrennen wir uns jedoch auch, so wie ihr Menschen. Nur die Kleidung verkohlt an jener Stelle, wo flüssiges Zinn darauf tropft“, erklärte er.
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