Emmerich nahm Fahrt auf und war im Begriff, sich völlig in Rage zu reden, als ihn eine Studentin aus dem Konzept brachte. Sie meldete sich, dabei heftig mit den Fingerkuppen schnipsend.
„Was ist denn, Mrs. Raichand?“, sagte der Professor hitzig.
„Ich wollte gerne einen Beitrag zur letzten Fragestellung leisten, wenn es recht ist?“
Friedmann überlegte, kniff seine Augen zusammen und betrachtete die junge Dame in der vorletzten Reihe. Er war auf der Suche nach dem Haken an der Sache. Seit er an dieser Universität dozierte, hatte es noch kein Student gewagt, ihn in seinen Anfällen zu unterbrechen.
„Mrs. Raichand, ich hoffe für Sie sehr, dass Ihr Beitrag gut überlegt und eine echte Bereicherung für uns alle ist.“
„Oh, das glaube ich schon. Denn ich möchte den Sinn dieser Universität gerne mit einer Ihrer fabelhaften früheren Ausführungen vergleichen, Professor Friedmann.“
Jetzt hatte sie den Professor tatsächlich am Haken. Von Neugier getrieben, welche seiner Aussagen sie zitieren würde, stimmte er bereitwillig, fast schon unbeherrscht wie ein Kind vor einem Haufen Süßigkeiten zu.
„Laut Ihnen, Professor, können die Studenten unserer Universität mit der kubischen Modifikation des Kohlenstoffs verglichen werden, einem Diamanten. Die Aufgabe und somit der Sinn unserer Schule besteht einzig darin, diese wertvollen Kristalle zu finden, sie zu formen und weiter zu härten. Es spielt dabei keine Rolle, welcher Herkunft er ist, welchen sozialen Status er hat oder welche herausragende Eigenschaft der Diamant, also der Student, sonst noch besitzt. Er muss aber in der Lage sein, durch seine Fähigkeiten den Grundgedanken des Staates zu leben und diesen auch festentschlossen in die Gesellschaft weiterzutragen.“
Friedmann verblieb mit geschlossenen Augen an seinem Pult, seine Arme stützten den schweren Körper und er ließ die Worte auf sich wirken. Er genoss das würdevolle Gefühl, vor Schülern der Universität zitiert worden zu sein.
„Exzellent und wirklich hervorragend, Mrs. Raichand. Daran könnte sich manch anderer ein Beispiel nehmen.“ Emmerich schaute dabei zu Jakob und Andrej hinauf.
Neraj Raichand nickte, setzte sich hin und suchte dabei energisch den Blickkontakt mit Jakob Lemmon. Der saß nur eine Bank von ihr entfernt in der obersten Reihe und beugte sich vor. Ihre Blicke trafen einander. Schlagartig wandelte sich ihr süßes Lächeln in ein spöttisches, dreckiges Grinsen. Sie öffnete ihren Mund ein wenig, drückte die kleine, spitze Zunge heraus und formte gleichzeitig den Daumen und den Zeigefinger ihrer linken Hand zu einem eindeutigen Zeichen und hielt es sich vor die Stirn.
„So ne Schlange“, ärgerte sich Andrej.
„Lass es nur gut sein“, beruhigte Jakob seinen entrüsteten Banknachbarn und gab ihm damit zu verstehen, dass alles in bester Ordnung sei. Er meldete sich.
„Was hast du jetzt schon wieder vor? Spinnst du?“
„Bleib locker.“
„Dem Professor wird das gar nicht gefallen.“
„Dem Professor vielleicht nicht, aber mir.“
Friedmann wollte gerade im Lehrplan weitermachen, als er Jakobs erhobenen Arm entdeckte. Er traute seinen Augen kaum. Was war denn heute nur los mit diesen Studenten? Der nächste, der sich innerhalb kürzester Zeit anmaßte, ihn, den Gefürchtetsten aller Professoren, zu unterbrechen.
„Lemmon, wir haben weitaus Wichtigeres vor uns als Ihre albernen Spielchen. Was um alles in der Welt wollen Sie denn jetzt noch“, Friedmann schnaufte.
„Ich möchte mir nur ein Beispiel nehmen“, sprach Jakob trocken.
Andrej schlug die Hände über seinem Kopf zusammen als Zeichen seines geringen Vertrauens, welches er in Jakob und dessen Vorhaben hatte.
„Ich möchte mir ein Beispiel an Mrs. Raichand nehmen und gern die Frage, Professor Friedmann, die im Übrigen noch nicht komplett beantwortet wurde, vervollständigen.“
Des Professors Laune baumelte jetzt am seidenen Faden. Das Gesicht, von Zornesröte übergossen, zeugte von einem akut bedrohten Gemütszustand, einem brodelnden Vulkan kurz vor einer heftigen Eruption. Doch zu Andrejs und vermutlich aller Verwunderung sagte der Professor im duldenden Ton eines Großvaters: „Bitte Lemmon, die Bühne gehört Ihnen."
Erleichtert ging Jakob sein Vorhaben an. Beobachtet von Friedmanns Blicken, richtete er sich auf. Der ganze Saal starrte ihn an, wieder einmal. Er wartete, er wartete so lange, bis jeder im Raum das Verlangen verspürte, seine Antwort wissen zu wollen. Die Spannung stieg allmählich ins Unermessliche, ein Psychospiel ganz im Stile des Professors, nur dass die Bühne diesmal ihm gehörte.
„Meine Aussage bedarf keines Kommentars.“
Ein Raunen ging durch den Saal. Mit dieser Art Antwort hatte keiner gerechnet, auch Andrej nicht. Dieser schaute zu Jakob auf. Was hatte der soeben von sich gelassen?
„Lemmon, es reicht“, hallte es durch den Saal.
Die Studenten zuckten zusammen. Jakob jedoch, unbeirrt von Friedmanns neuerlichem Anfall, hob seinen Arm. Er deutete mit der Hand auf eine Fläche vor ihm an der Wand. Regungslos verweilte er in dieser Stellung in der obersten Reihe. Die ersten Studenten begannen zögerlich ihre Blicke von ihm zu lösen und folgten still seinen Anweisungen. Auch Friedmann drehte zaghaft seinen Kopf und schaute auf die in der Wand verankerte Kreidetafel. Der alte Professor wusste ganz genau, welche Botschaft über seinem Haupt prangerte, und dennoch musste er die ins harte Mauerwerk gemeißelten Buchstaben lesen: „R.O.M.E.“
Die Zeit stand still. Dem Professor fehlten die Worte. Zum ersten Mal schien er als Verlierer vom Platz gehen zu müssen. Die Republic of Modern Europe war das Endziel dieser Elite-Universität und Jakob hatte dies eindrucksvoll und ohne ein einziges Wort zu gebrauchen erläutert.
„Mr. Lemmon, eine blendende Vorstellung.“
Jakob grüßte und fügte hinzu.
„Moderne Demokratie.“
Damit war nun allen Anwesenden im Hörsaal klar, was er meinte. Das Ziel der Theodor-von-Meye-Universität war es, die Eliteschüler auf allen wichtigen Ebenen der Gesellschaft zu integrieren, ihren Einfluss zu nutzen und so die perfekte, die moderne Demokratie der R.O.M.E. am Leben zu halten.
Professor Friedmann strich sich mit der Hand von der linken Wange aus über sein Doppelkinn, er dachte intensiv nach. Dann begann er etwas mit weißer Kreide an die Tafel zu skizzieren. Dabei fauchte er: „Hat noch jemand von Ihnen etwas zu sagen?“
Niemand wagte es.
„Klasse. Dann können wir ja abschließend mit unserem eigentlichen Lehrstoff weitermachen und ach …“, fügte er leise hinzu, „Mr. Lemmon und Mrs. Raichand, Sie beide sehe ich später noch in meinem Büro, verstanden!“
„Setzt euch.“
Jakob und Neraj nahmen auf der grünfarbigen, fleckigen und abgewetzten Couch neben dem geöffneten Fenster Platz. Unzählige Risse durchzogen das Leder. Wie vielen Studenten dieses Möbelstück schon eine Sitzgelegenheit geboten hatte, ließ sich in Zahlen nicht feststellen. Aber es müssen viele gewesen sein, sehr viele, dachte Jakob.
Der Professor nahm drei Tassen von dem Wandregal.
„Tee?“
Jakob und Neraj stutzten und schauten sich an. Das Schweigen im Raum deutete Friedmann letztendlich als ein unmissverständliches Nein.
„Dann eben nicht.“
Er platzierte zwei Porzellantassen zurück an ihre Stelle. Das Wasser im Kocher brodelte bereits und Friedmann nahm den Behälter von der Heizspirale. Er öffnete einen Flügel des kleinen Hängeschränkchens direkt über der Spüle und fand die Blechdose mit dem Zucker. Etwas konsterniert schielte er hinein.
„Heute müssen wohl zwei Würfel reichen.“
Er nahm die letzten beiden Zuckerstücke heraus und ließ sie in seine Tasse mit dem Granulat fallen.
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