„Und was jetzt?“
„Ich weiß es nicht, Petru.“
Ganz anders als Corvin vorhin, steuerte dieser Riese mit schnellen, zielstrebigen Schritten auf das Versteck zu. Nach nur wenigen Sekunden stand er vor dem umgefallenen Baum. Er musterte die halb im aufgerissenen Erdboden vergrabene Wurzel.
Schnell, mit einem Schwenk hatte er die Wurzelstränge beiseitegerissen und die zwei zu Tode erschrockenen Jungen, die keinen Mucks von sich gaben, entlarvt. Mit aufgerissenen Augen starrte er die beiden an. Corvin und Petru waren vor Schreck so eng zusammengerückt, dass sich nun sogar Platz für eine dritte Person in der Erdmulde bot. Beide waren wie gelähmt. Die Bestürzung beim Anblick dieses Mannes beherrschte sie. Er kam näher und drückte sein hässliches, unrasiertes, ungewaschenes und von Rissen durchzogenes Gesicht in den Bau. Dann ermöglichte er den Jungen die Sicht auf seine gelben Zähne, zwischen denen man die Reste der letzten Mahlzeiten sehen und auch riechen konnte. Corvin wurde übel, Petru dagegen kämpfte erneut mit seinem Harndrang und beide fragten sich, was wohl jetzt mit ihnen geschehen würde, ob die Defensivtaktik, die sie eingeschlagen hatten, wirklich die Richtige war.
Der Mann riss die beiden auseinander. Ohne Probleme zog er Petru aus dem Loch und schleuderte ihn einige Meter weit kopfüber in den Schnee. Corvin fing zu schreien und zu strampeln an, als ihm der Riese die Hand an den Hals legte. Doch anstatt zuzudrücken, knotete er Corvin den Schal auf, zog ihn herunter und legte ihn sich um den eigenen Hals. Dann ließ er von ihm ab, ging auf Petru zu, der noch halb benommen im Schnee lag, und klaute auch diesem mit einer Bewegung den locker sitzenden Wollschal. Anschließend zerriss er diesen und band sich die Fetzen um seine Hände. Er schaute noch einmal auf Petru, dann zu Corvin und im nächsten Moment war er im Unterholz einer angrenzenden Baumgruppe verschwunden.
Petru und Corvin sahen sich an. Der eine im Schnee auf dem Rücken liegend, der andere im Erdloch hockend und sich die Kehle haltend.
„Willst du mich immer noch vermöbeln?“
„Nein, ich will nur noch nach Hause!“
R.O.M.E.
Diese vier Buchstaben stachen Jakob ins Auge, als er, begleitet vom Untergang der Sonne und den drei Pinguinen im Rücken, über die Brücke des Regierungsgebäudes mitten in Wien ging. Die feurig rote Kugel, geheimnisvoll tief über der Stadt schwebend, stand in einem Winkel, der optimal war, um die goldbraunen Symbole der Republic of Modern Europe in einem eindrucksvollen Licht aufgehen zu lassen. Man hatte ihn schon erwartet, denn ein kleiner, dünner grauhaariger Mann mit einem gepflegten Schnauzer über der schmalen Oberlippe nahm ihn munter in Empfang.
„Wurde ja auch Zeit.“
Er unterschrieb schnell einige Papiere und gab sie kurz und bündig der schwarzweißen Eskorte, die bis dahin keine Sekunde ihren Auftrag vernachlässigt hatte, Jakob nicht beim NSD in Paris, dafür aber sicher beim Nationalen Komitee in Wien abzuliefern, das sich seit dem Ostzuwachs hier im ehemaligen historischen Museumsquartier gegenüber dem Heldenplatz befand.
„Kommen Sie?“, fragte der Mann.
Jakob folgte seinem neuen Begleiter den Aufgang hinauf, der über eine Betontreppe ins obere Stockwerk führte, wo seit heute Morgen die Abgeordneten des Komitees tagten.
„Können Sie mir sagen, was die von mir wollen?“
„Leider nicht, Mr. Lemmon. Nicht dass ich es nicht sagen würde, wenn ich es könnte.“
Jakob verzog die Augenbrauen.
„Verstehen Sie mich bloß nicht falsch. Ich weiß es nicht, bin nur der Laufbursche hier im Gebäude, für Botengänge und andere mindere Aufgaben. Aber so viel kann ich Ihnen sagen, Priorität haben Sie am heutigen Tag.“
Der Alte zwinkerte gut gelaunt mit seinem rechten Auge und blieb stehen.
„So, wir sind da, bitte warten Sie hier.“ Er legte seine Hand auf die vergoldete Klinke einer Tür, öffnete diese ein wenig und schob seinen Kopf durch den Spalt, bis er sich vollständig durch die enge Öffnung quetschte.
„Was für ’ne selten dumme Frage: Können Sie mir sagen, was die von mir wollen.“ Jakob sprach mit sich selbst. Er war ganz sicher nicht wegen seiner ausgezeichneten Fähigkeiten als Bildhauer vor das Komitee zitiert worden. Er wusste schon warum. Schon fing die Bauchwunde wieder zu schmerzen an. Mit dieser ablenkenden Frage hatte er sich nur in Sicherheit wiegen wollen.
Er stülpte die Taschen seiner Jacke nach außen und musste verbittert feststellen, dass er keine Tablette mehr hatte, um den beißenden Schmerz wirkungsvoll zu unterdrücken. Krampfhaft hielt er sich am geschmiedeten Handlauf des Geländers fest. Er fühlte dicke Schweißperlen seine sorgenvolle Stirn herunterrinnen und eine in seinem Körper aufsteigende Wärme. Die Tür ging auf.
„Sie dürfen jetzt, Mr. Lemmon.“
Unsicher trat Jakob über die Schwelle.
„Meine Damen und Herren, Mr. Jakob Lemmon, Mitglied der Future Group of Europe und Student an der Theodor-von-Meye-Universität Berlin mit Hauptfach Kunst und …“
„… und Kunstgeschichte“, vollendete eine raue Stimme den Satz. „Vielen Dank, Gustav, Sie können jetzt gehen.“
Gustav nickte, strich sich über den Schnauzer und trat mit einem Gruß rückwärts durch die offen stehende Tür. Dann schloss er diese sacht und ließ Jakob mit dem Komitee zurück.
Jakob schaute um sich, verblüfft über die Inszenierung seiner Vorstellung. Er erblickte schräg an der Decke eine aus Modelliermasse gefertigte Landkarte, auf der die Grenzen der Mitgliedstaaten des Neuen Europas klar zu erkennen waren, farblich und durch ein Relief, eine Kunstform aus Plastik und Malerei, vom Hintergrund abgehoben. Er verfolgte die Linie, die, startend auf der Iberischen Halbinsel über die Bretagne und weiter durch die Meerenge zwischen Frankreich und den verfeindeten Briten hindurchführte. Hier im Kanal eröffnete sich auch der Nordwall, eine Bastion mitten auf dem Wasser, die sich bis nach Nordskandinavien ausdehnte und Großbritannien vom Festland lückenlos abriegelte. Im Osten führte die Reichsgrenze von der Düna zum Dnjepr und weiter entlang der Küste des Schwarzen Meeres, ihren Abschluss findend mit der Hölle auf Erden, dem Kaukasus. Hier stießen drei der vier Großmächte zusammen und kämpften um jedes Stück Land, das absolut nichts darstellte und keinen Wert besaß, außer in jemandes Besitz zu sein und die eigenen Grenzen zu bilden. Keine Rohstoffe, keine ertragreichen Äcker und auch keine prächtigen Sandstrände, sondern Berge, Schnee und eine karge Vegetation. Kommunisten schossen auf die von Süden herannahenden Streitkräfte der Arabischen Liga. Die Araber lenkten ihre Sprengsätze auf die Verbände der R.O.M.E. und diese wiederum zogen gegen die Russen und Chinesen in den Kampf. Ein Fass ohne Boden, von dem sich nur die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten fernhielten. Den Abschluss machte das Mittelmeer, das die Abgrenzung zum Schwarzen Kontinent bildete, von dem keine allzu große Gefahr ausging. Zu groß waren die inneren Streitereien über Religion, Territorien und Diamantenminen, als dass man sich hier vereinen könnte.
Die Landkarte beeindruckte Jakob. Er war sich absolut sicher, dass jedes noch so kleine Teilstück penibel genau vom Künstler eingearbeitet worden war. Erst jetzt bemerkte er das zu einem Rundsaal gebogene, hellbraune Mauerwerk des warm wirkenden Raums. Unter der Deckenleiste waren längliche Fahnen angebracht, die bis kurz über den Parkettboden an der Wand herabhingen, alle einheitlich im Kreis. Jakob erkannte die Landesflaggen der Mitgliedstaaten, die gleichzeitig als Hinweis auf die dazugehörigen Personen dienten, die in um einen runden Tisch gruppierten Sesseln brüteten.
„Also, Mr. Lemmon“, sagte die Stimme, die zuvor Gustav bei Jakobs Vorstellung unterbrochen hatte. „Willkommen im allerhöchsten Kreis, dem Ratsausschuss der Soziusse des Neuen Europas. Mein Name ist Oskar Braun.“
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