„Du wartest am Auto auf mich, kapiert? Kannst dich ja schon mal reinsetzten. Ich fahre dich dann nach Hause, einverstanden?“
„Zu Befehl, Capitano“, lallte der und schlurfte beiseite.
Jakob wollte kurz allein sein, nur zwei bis drei Minuten, doch dann bemerkte er Andrejs Not. Angetrunken taumelte dieser von einem Bordstein zum anderen und schien völlig die Orientierung verloren zu haben. Jakob rannte los über die Straße und auf direktem Weg zu seinem hilflosen Freund. Auf gleicher Höhe angelangt, packte er ihn an den Schultern und richtete ihn auf.
„Die Schlüssel!“
Andrej reagierte nicht und Jakob riss sie ihm aus der Hand.
„Du bleibst jetzt lieber bei mir, bevor du dich oder andere noch in Gefahr bringst“, befahl Jakob und stiefelte mit seiner Fracht im Schlepptau auf seinen parkenden Flitzer zu. Aber dann, auf halber Strecke, blieb er unversehens im Schein der Straßenlaterne stehen.
Irritiert blinzelte er umher. Ihm war, als hätte er soeben eine Stimme seinen Namen rufen hören, ganz schwach und wie aus dem Nichts. Konzentriert und mit gespitzten Ohren wartete er auf ein erneutes Geräusch, jedoch nahm er nur einen anderen, leisen und zischenden Ton wahr, der geradewegs von seinem Auto herrührte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Jakob verstand, dass irgendetwas nicht stimmte. Er fackelte nicht lange, schnellte zu Andrej hinüber und riss diesen rücklings nach unten. Mit einem Mal erschütterte eine heftige Explosion die Stille. Jakobs Auto stieg, getragen von einer gewaltigen Feuerwalze, in die Höhe, um dann, vom Flammenmeer eingehüllt, am Boden zu zerschellen.
Die Druckwelle zwang Andrej noch tiefer in die Knie und riss ihm förmlich den Boden unter den Füßen weg, sodass er kurz darauf auf der Straße lag. Er schmeckte den beißenden Qualm, hustete und hielt sich seinen Ellenbogen vor den Mund. Neben ihm schepperten Glasscherben, Blechteile und Plastikstücke zur Erde, die die Explosion aus dem Fahrzeug gerissen hatte und wie feurige Pfeile durch die Nacht fegen ließ. Erstaunlicherweise war er unverletzt geblieben, weil keines der Geschosse ihn zu treffen vermocht hatte. Alle Wrackteile, die in seine Richtung geschleudert wurden, prallten wie Sandklumpen an dem Schutzschild, welches Jakob darstellte, ab. Nahezu unberührt trotz der immensen Kräfte, stand dieser felsenfest vor ihm, die Arme leicht vom Körper weggedreht sich gegen die Erschütterung stemmend. Der Splitterregen legte sich und Jakob wandte sich an ihn.
„Bist du okay?“
Andrej brachte keinen Mucks hervor, aber er war jetzt hellwach, die Explosion schien auch seinen Alkoholpegel fortgefegt zu haben.
Vom Lärm alarmiert, rannten immer mehr Personen zum Ausgang des Glaswerks, um zu schauen, was geschehen war. Das Feuer loderte. Die Alarmsirenen umstehender Autos heulten und einige Jungs sprinteten zu ihren Kisten, um ein Übergreifen der Flammen auf diese zu verhindern. In diesem Wirrwarr schnappte sich Jakob Andrej.
„Lass uns gehen.“
Verdutzt stand Andrej auf und folgte Jakob, der das Tempo vorgab, zügigen Schrittes. Ihr Ziel war die U-Bahn am vorderen Ende des Fabrikgeländes. Unter den Augen einiger entsetzter Personen, darunter Beth, die sich in einer Seitengasse versteckt und alles mitangesehen hatte, verschwanden die beiden.
Die mit Graffiti verschmierten Türen des letzten U-Bahn-Waggons, welchen Jakob und Andrej nur mit Mühe und Not erreichten, schlossen sich und der Zug fuhr los. Ohne ein Wort zu sprechen, setzten sie sich am Fenster einander gegenüber. Andrej starrte stumm und regungslos zu Boden, selbst als Jakob wutentbrannt seinen Autoschlüssel, den er immer noch in der Hand hatte, durch die U-Bahn der Linie 6 schmetterte. Ein paar Jungen, die sich im vorderen Bereich des muffligen Waggons befanden, schauten auf. Als sie Jakobs blutverschmierte Miene erblickten und die zerfetzte Kleidung an seinem Körper, wurden sie hektisch. Schnell rissen sie die Tür zum vorderen Abteil auf und verschwanden.
Erst jetzt realisierte Jakob, was geschehen war. Er schaute an sich hinunter und bemerkte das Blut, welches die Jungen höchstwahrscheinlich soeben in Panik versetzt hatte. Die Explosion seines Wagens schien ihn schlimmer zugerichtet zu haben, als er zunächst angenommen hatte. Der Schmerz, vom Adrenalin in seinem Körper verdrängt, hätte ihn wenigstens ansatzweise ahnen lassen können, wie es wirklich um ihn und seine Gesundheit stand, doch spürte er ihn nicht und so blieb ihm lediglich die Möglichkeit einer visuellen Diagnose.
Er krempelte einen Ärmel seines Hemdes hoch, indem er den Stoff dreimal umschlug und etwas zusammenquetschte. An seinem anderen Arm hing nur noch ein Kleidungsfetzen, den er symmetrisch zum gegenüberliegenden Ärmel auf selber Höhe abriss. Damit wischte er sich übers Gesicht. Er spürte sofort die aufgerissene Haut über seiner rechten Braue und das schmierige Blut, welches den hellen Stoff unverzüglich dunkelrot eingefärbt hatte. Unmittelbar unter seinem Brustkorb sah er zwei größere, schwarz umrandete Löcher in seinem Hemd, aus denen ein bisschen Blut tröpfelte. In einem der beiden klemmte ein kantiger, metallartiger Gegenstand, den Jakob als Bestandteil seines Autos identifizierte. Bis auf diese Verletzung unterhalb seines Bauchnabels schienen sich alle anderen Wunden auf Durchtrennungen oberer Hautschichten zu beschränken und stellten somit keine Gefahr dar. Teilweise hatte die Neubildung des empfindlichen Bindegewebes schon eingesetzt, das gut durchblutet und sauber in roter Farbe glänzte.
Sorgen machte ihm einzig die Bauchwunde. Hier musste er schleunigst handeln, um den Fremdkörper zu entfernen und dann die Blutung zu stillen, damit der Heilungsprozess in Gang kam.
Entschlossen packte er den Splitter am Schaft und zog ihn langsam heraus. Blut rieselte hervor und setzte zugleich die körpereigene Reinigung in Gang, wodurch Bakterien und Zelltrümmer aus der Wunde geschwemmt wurden. Das Loch in seinem Bauch fing schlagartig stärker zu bluten an und Jakob presste den grob abgetrennten Stoffrest seines Ärmels fest auf die offene Scharte. Zum ersten Mal fühlte er jetzt so etwas wie Schmerz, der seinen Leib zu peinigen versuchte. Mannhaft stemmte er sich gegen diesen Zustand, zwang sich in eine aufrechte Sitzposition und schaute mit stoischem Blick zum Fenster hinaus.
Die U-Bahn hatte mittlerweile den Tunnelschacht verlassen und schlängelte sich oberirdisch ratternd über die auf Stahlträgern befestigten Gleise. Zu beiden Seiten standen mehrstöckige Altbauten, die grau und verlassen vor sich hin vegetierten und den Verlauf der Bahnlinie bestimmten. Viele der Fenster waren mit Brettern vernagelt und nur aus wenigen drang etwas Licht auf die Straße, die, gefüllt mit parkenden Autos, die eiserne Konstruktion begleitete. Das Rattern des Zuges nahm an Intensität zu, weil der Waggon an Geschwindigkeit verlor, bis er letztendlich in einer Station zum Stehen kam.
Jakob schaute über den leergefegten Bahnsteig. Keine Menschenseele war zu sehen und außer Schmierereien an den Wänden fiel ihm nichts weiter auf. Es war ein trostloser Ort, dreckig und abgewirtschaftet und keinesfalls wert, noch länger in Augenschein genommen zu werden. Das Signal zur Abfahrt ertönte und gemächlich setzte sich die Bahn wieder in Bewegung, als er es zum ersten Mal sah. Verdutzt klebte er an der Scheibe und verfolgte das immer kleiner werdende Plakat, bis es hinter einem Vorsprung in der Wand der hellen Bahnhofshalle verschwunden war.
„Hast du das gesehen, Andrej?“
Doch diesen schien das nicht wirklich zu interessieren. Er saß immer noch, zu Boden schauend, auf seinem Platz und gab keinen Laut von sich. Weder Jakobs Verletzungen noch das Plakat an der Haltestelle konnten irgendeine emotionale Regung bei ihm erzeugen.
„Das warst du, stimmts?“ Aber Andrej hüllte sich weiter in Schweigen. „Ich glaub es ja nicht.“
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