Nehmen wir an, jemand hat in diesem oder einem seiner vergangenen Leben einen Menschen, der ihm sehr wichtig war, plötzlich unwiederbringlich verloren. Vielleicht fiel der geliebte Vater im Krieg, brannte die Ehefrau mit einem Anderen durch, starb das eigene Kind bei einem Unfall, oder der Bruder nahm sich nach einem Streit das Leben. Konnten diese massiven Verlusterlebnisse nicht aufgearbeitet werden, wurden alle in Verbindung damit erzeugten Gefühle und Ängste als emotionale Kapseln, sog. Blockaden, im Emotionalkörper abgespeichert. Von seiner Angst vor Endgültigkeit und Kontrollverlust getrieben, wird sich dieser Mensch in bestimmten Situationen anders verhalten als jemand, der diese Ängste nicht kennt.
Derjenige, dessen Vater aus dem Krieg nicht mehr heimgekehrte, bringt einen Angehörigen, der nur eine Urlaubsreise antritt, mit einem anderen Gefühl zum Flughafen als der Unbelastete. Die Angst, den Angehörigen vielleicht nie wieder zu sehen, wird ihm den Abschied erschweren. Der Angstfreie bleibt unbeteiligt oder freut sich für den Urlauber.
Der, der von der Angst beherrscht wird, verlassen zu werden, wird womöglich mit einer Eifersuchtszene reagieren, wenn sich seine Freundin mit einem anderen Mann unterhält. Genau diese heftige Reaktion aber begünstigt, dass sich die Freundin mit Unverständnis oder gar Wut von ihm abwendet, was seine Angst zusätzlich schürt. Jemand, der in einer solchen Situation keine Eifersucht verspürt, nimmt die Unterhaltung seiner Freundin mit einem anderen Mann einfach nur zur Kenntnis.
Der Mensch, dessen Angst vor Kontrollverlust durch den Tod eines Kindes entstand, wird nun seinem Kind gegenüber versuchen, es vor jeder nur denkbaren Gefahr zu bewahren. Er wird alles kontrollieren und absichern wollen, und allein die Frage des Kindes, ob es auf der Straße mit Freunden spielen darf, wird unweigerlich seine tief sitzende Angst aktivieren. Aus überzogenen Sicherheitsbedürfnis beschränkt er die Freiheit und die Erfahrungsmöglichkeiten seines Kindes, so dass es sich spätestens in der Pubertät der Kontrolle entziehen und sich radikal über die Wünsche und Anordnungen des überängstlichen Elternteils hinwegsetzen wird. Genau dieses Verhalten wird wiederum die Angst vor Kontrollverlust verstärken. Ein Mensch, der von dieser Angst nicht beeinflusst ist, lässt seinen Kindern den nötigen Spielraum und verhindert somit deren extreme Gegenreaktion in der Pubertät.
Ist die Angst vor den tödlichen Folgen einer Auseinandersetzung als Blockade im Emotionalkörper eines Menschen abgespeichert, wird er in einer Beziehung möglichst alles tun, um Streit zu vermeiden. Wenn es dann doch zu einem Konflikt kommt, treibt seine Angst ihn dazu, jedes gesprochene oder gehörte Wort auf die Goldwaage zu legen und daraufhin zu untersuchen, ob irgendwelche Zwischen- oder Untertöne die eigene Befürchtung vor Endgültigkeit schüren. Sicher wird er aus seiner Angst heraus geneigt sein, immer wieder den ersten Schritt zu tun, um schnellstmöglich eine Versöhnung zu erzielen. Dieses manipulierte Verhalten macht ihn extrem verletzlich und begünstigt zudem ein erpresserisches Verhalten des Gegenübers. Hätte er diese Angst nicht, bliebe er gelassen im Augenblick, sachlich in der Auseinandersetzung und würde so dafür sorgen, dass von seiner Seite keine Unklarheiten oder Unstimmigkeiten entstehen können.
Was aber haben diese Ängste mit unserem seelisches Wachstum zu tun?
Wenn wir mit unserer Angst in Berührung kommen, leiden wir. Das Leiden fungiert als Katalysator, der uns die Angst spüren lässt. Sind wir uns aber ihrer bewusst, merken wir, wenn sie in einer bestimmten Situation auftritt und erkennen, wie sie unser Verhalten manipuliert. Wir lernen, der Angst nicht mehr nachzugeben, auch wenn wir sie verspüren. So entziehen wir ihr nach und nach die Kraft und erleben, wie freudvoll und leicht unser Leben wird, wenn wir uns von unserer Angst befreien und auf dieser Grundlage unser Verhalten bewusst verändern können. Und genau dieses erweiterte Bewusstsein bewirkt das angestrebte seelische Wachstum.
Um das Vorgenannte zu verdeutlichen, hier noch eine kleine Analogie:
Stellen Sie sich jede Angst als einen Baum vor. Die Vielzahl unserer Ängste bildet einen dichten Wald. Jedes Mal, wenn eine Angst in uns aktiviert wird, „düngen“ wir einen dieser Angst-Bäume mit der Energie unserer Aufmerksamkeit, so dass er schneller wächst und mehr Licht wegnimmt. So wird der Wald im Laufe der Zeit immer dichter und undurchdringlicher. Ein Erlebnis, das unsere Angst zum Vorschein bringt, so dass wir uns mit ihr auseinandersetzen können, zeigt uns den Weg zu einem dieser Angst-Bäume, den wir nun, dank unserer Bewusstheit, fällen können. Mit jedem gefällten Baum aber wird der „Wald unserer Angst“ lichter. Nach und nach werden sich nun am Boden andere Pflanzen ansiedeln können, die vom hellen Schein unserer Bewusstheit genährt werden, uns mit ihrer Schönheit erfreuen und Früchte tragen.
Krisen und Extremsituationen
„Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“
(Rio Reiser / Ton Steine Scherben)
Jeder Mensch gerät früher oder später einmal in eine Krise. Diese Durchzustehen und dabei ihre Auswirkungen und deren Wichtigkeit für das eigene Leben zu erkennen, stellt einen entscheidenden Wachstumsimpuls für den seelischen Reifeprozess dar. Hochmütig urteilen Mitmenschen, die noch keine Erfahrungen mit einer Krise gemacht haben, über die, die gerade in einer solchen stecken. Aber nur so lange, bis sie selbst eine durchmachen. Eine Krise kann durch finanzielle, soziale oder gesundheitliche Schwierigkeiten, durch Depression, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit, Tod eines Angehörigen, Scheidung o. ä. ausgelöst werden. „Krise“ ist ein aus dem Griechischen stammendes Substantiv zum altgriechischen Verb krínein, welches „trennen“und „(unter-)scheiden“ bedeutet […]. Es bezeichnet „(Ent-)Scheidung“, „entscheidende Wendung“ (Duden) und bedeutet eine „schwierige Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“ (Duden).“ Quelle: Wikipedia. Sie stellt den Gipfel eines Problem-Berges auf einer Lebens-Wanderung dar. Von dort aus müssen wir die Richtung ändern, müssen entscheiden, uns wandeln. Eine Krise ist eine Extremsituation, die heftige Reaktionen in uns erzeugt. Das kann sich sehr positiv auf unser Leben auswirken, z. B. indem wir Entscheidungen treffen, uns endgültig von Abhängigkeiten lösen, alte Gewohnheiten hinter uns lassen, uns klar abgrenzen oder eine für uns schädliche Beziehung beenden. In schlimmen Fällen kann eine Krise jedoch auch dazu führen, dass wir uns in Drogen flüchten,
zum Dieb, Erpresser oder gar Mörder werden, anderen Gewalt antun oder Selbstmord begehen. Extreme Situationen in unserem Leben helfen uns, uns selbst zu erkennen. Wir wissen nur, wozu wir fähig sind, wenn eine Situation uns an unsere Grenzen bringt. Wir Menschen gleichen einem Instrument, auf dem ein Spieler die lieblichsten Melodien, aber auch die schrägsten Missklänge erzeugen kann; grundsätzlich ist alles Gute wie auch alles Schlechte potentiell in uns angelegt.
Auch Eltern, die ihre Kinder grundsätzlich liebevoll und mit viel Verständnis erziehen, kommen manchmal an Punkte im Umgang mit ihrem Nachwuchs, an denen die Grenzen der Geduld erreicht sind, an denen sie rumbrüllen, die Türen knallen oder pädagogisch wenig wertvolle Äußerungen von sich geben. Von heranwachsenden Gegenüber provokant gereizt, hat schon so mancher friedliebender Erziehungsberechtigte mit Geschirr geworfen, ist hysterisch oder sogar handgreiflich geworden. Ein in eine Krise geratener vermögender Mensch hat möglicherweise den Ballast seines Besitzes und all die damit verbundenen gesellschaftlichen Verpflichtungen verflucht, ein hoch gelobtes Fotomodell seine Schönheit als echte Behinderung für den eigenen Lebensweg empfunden. Gesundheitliche Krisen führen nicht selten dazu, das eigene Leben von Grund auf neu auszurichten, faule Kompromisse zu beenden und nunmehr seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen.
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