Inzwischen hat auch der atemlose Frieder die Weide erreicht und ist nicht weit hinter Magda.
Die Bärin kommt näher und erhebt sich. Damit versucht sie, Magda, durch lautstarkes Drohen zu vertreiben und die Beute für sich zu beanspruchen. Eine für Magda bekannte Prozedur, die sie geduldig erwartet. Sie weiß, dass das Tier bald noch ein oder zwei Schritte näher kommen wird, bevor es richtig angreift. Darauf wartet sie. Noch während der Schritte will sie vorspringen und mit dem Stock gegen die Kehle stoßen. Gleich darauf muss sie auf die Nase schlagen. Der Schädel selbst ist viel zu hart, als dass ein Hieb darauf sonderlich Wirkung zeigen würde. Breitbeinig, den Stock fest in beiden Händen, bereit zuzustoßen, steht Magda da.
Frieder wirft seine Mütze in die Luft und schreit, um das Tier zusätzlich zu verwirren. Sofort läuft er weiter. Über sich hört er das leise Sirren eines Pfeils. Gleich darauf trifft dieser von der Seite Magdas Hals. Die Spitze schlägt durch und schaut auf der anderen Seite wieder heraus. Die Halsschlagadern sind eröffnet. Blut strömt in großer Menge pulsierend aus. Langsam, wie ein gefällter Baum, kippt die Frau zur Seite und bleibt reglos liegen. Frieder steht vor Schreck wie angewurzelt da. Dann dreht er sich um, blickt in die Richtung aus der der Pfeil gekommen sein muss und sieht tatsächlich, am Waldrand versteckt, eine Gestalt, die ein junger Mann im braunen Mantel sein könnte, welcher sich eiligst davon macht. Schon ist die Gestalt nicht mehr zu sehen. Frieders erste Sorge aber gilt Magda. Er stürmt schreiend, die Bärin missachtend, zu ihr hin.
„Magda, steh auf. Was ist mit dir? Sag was! Tu was! Magda!“
Frieder bricht in Tränen aus und trommelt wie wahnsinnig auf der sterbenden Frau herum, als könne er sie damit beleben, ihr helfen. Noch einmal öffnet sie die Augen, tonlos formen Lippen unverständliche Worte, gefolgt von einem letzten Lächeln. Damit schließt Magda die Augen für immer.
Für die Bärin war Frieders Geschrei und Getrommel zu viel. Sie zieht sich lieber zurück und verzichtet auf die Mahlzeit.
Unablässig rüttelt Frieder weiter an dem leblosen Körper, unfähig, den Tod Magdas zu verstehen. In seine Trauer mischt sich Wut, die den Tränenstrom verebben lässt. Trotzig erhebt er sich und wendet sich dorthin, wo der Bogenschütze gestanden hat. So schnell, wie es seine alten kurzen Beine nur erlauben, rennt er los. An der Stelle stehen die Bäume nicht sehr dicht. Es ist nur ein schmaler Ausläufer des Waldes, der zwei Wege voneinander trennt. Auf dem Weg entlang der Weide ist niemand zu sehen. Frieders Gefühl sagt ihm, welche Richtung er nehmen muss. Auf Spuren am Boden achtet er nicht. Weit kann der Kerl nicht sein. Er läuft so schnell er kann die Straße nach Steinenaue hoch. Den Bogen, der hoch oben in einem Baum in dem Waldstück baumelt, hat er nicht gesehen.
* * * * *
Im ersten Licht des Morgengrauens dieses Tages hatten sich Guda und Beata auf den Weg gemacht. Sie wollten zu Eringus. Guda musste endlich Bekanntschaft machen mit dem Drachen, fand Beata. Es ging nicht an, dass die Halbzwergin nach so vielen Monaten sich immer noch nicht zu ihm traute, ist er doch ein so unverzichtbarer Partner.
Guda hat einen ganz anderen Standpunkt dazu. Natürlich weiß sie, dass der Drache im Grunde ein friedfertiger Zeitgenosse ist, der eigentlich nur in Ruhe und Frieden in seinem Tal leben mochte. Aber er ist nun mal ein Drache, mit gar fürchterlichen Möglichkeiten. Und vor allen Dingen: Er ist so ungeheuer groß. Außerdem weiß Guda nicht, was man mit einem Drachen anfangen soll. Ihr ganzes Leben ist sie ohne einen ausgekommen.
„Stell dir mal vor, Guda, ich bin in einen tiefen Graben gestürzt und komme nicht mehr aus eigener Kraft heraus oder ich bin verletzt und nicht mehr bei Sinnen. Und du kannst mich nicht erreichen und mir helfen. Der Drache kann immer helfen und sei es nur, passendere Hilfe zu beschaffen, wie zum Beispiel Zwerge zu schicken. Außerdem ist er ein hervorragender Gesprächspartner für alle Fragen.“
„Ich hab dich.“, brummte Guda trotzig.
„Ich weiß viel, aber nicht alles. Er aber verfügt über Wissen, das so weit zurück reicht, dass es noch gar keine Aufzeichnungen gibt. Vielleicht gibt es aber auch mal etwas, das du lieber nicht mit mir besprechen möchtest und du trotzdem Rat benötigst.“
„Was soll das sein?“
„Das weiß ich jetzt auch nicht, doch ich hoffe, wir werden lange zusammen sein, da mag sowas schon mal vorkommen.“
„Glaub ich nicht.“ Die Halbzwergin lässt sich nicht überzeugen.
„Jetzt stell dich nicht so an.“ Beata wird unwirsch. „Er ist ein sehr guter Freund von mir und ich möchte, dass auch du Freundschaft mit ihm schließt.“
„Und wie hast du dir das vorgestellt? Geh ich hin, geb ihm die Hand und sag wir sind jetzt Freunde. Ja?“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so störrisch bist.“
„Ich bin ein Zwerg.“
„Bist du nicht, nur zur Hälfte.“
„Dann ist jetzt gerade die zwergische Hälfte störrisch.“
Schweigen. Doch nicht lange und Beata fängt an zu lachen. Guda kann nicht anders und stimmt in das Lachen ein.
„Komm her, du sture Zwergenhälfte. Ich will dich umarmen.“ Beata nimmt ihre Freundin in den Arm und gibt ihr einen Kuss. „Ist das wirklich so schlimm für dich?“
„Ich fühl mich dabei nicht wohl, Beata. Ich weiß, wir leben alle mit dem Drachen in Nachbarschaft. Aber das reicht doch. Keiner geht hin und macht sich lieb Kind bei dem Feuerspucker.“
„Das ist auch gut so und auch so gewollt. Stell dir vor, jeder wüsste, dass der Drache ein ganz friedlicher Zeitgenosse ist, der keiner Fliege etwas zu leide tut. Es hätte doch keiner mehr rechten Respekt vor ihm. Ich meine, keiner würde ihn als Herrscher dieses Reiches achten. Nur die Angst vor seiner Macht ist es, die die Menschen dazu bringt, ihn anzuerkennen.
Du aber brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Hast du ihn erst einmal recht kennen gelernt, wirst du mich auch verstehen.“
„Ich gebe mich geschlagen. Dir liegt so viel daran. Dann schau ich mir mal den Prachtkerl aus der Nähe an.“
Strammen Schrittes marschieren die beiden Frauen weiter. Zur Mittagszeit wollen sie bei Magda Rast machen, um anderen Tages dann bei dem Drachen anzukommen. Unterwegs treffen sie auf Pessolt, der lautstark seine Leute antreibt, weil ihm alles zu langsam geht.
* * * * *
So schnell ihn seine alten Beine tragen können, läuft Frieder die Straße nach Steinenaue hoch. Es ist schon einige Zeit vergangen, doch jetzt ist ihm das Glück hold. Dort vorne ist der Kerl, den er wohl sucht. Er sitzt auf einem Pferd und hat es offensichtlich überhaupt nicht eilig. Kaum in Rufweite schreit er hinterher: „Bleibt stehen, Verbrecher. Ich erwische euch. Ihr entkommt mir nicht.“
Erstaunlicher Weise hat der Reiter tatsächlich sein Pferd zum Stehen gebracht und erwartet nun den Halbling, ohne sich im Sattel umzuwenden. Schnell steht Frieder daneben und blickt, schwer atmend, nach oben.
„Oh, verzeiht, junge Frau. Von Ferne hielt ich euch für einen Mann, den ich suche. Und wie ich sehe, tragt ihr auch keinen Bogen bei euch und euer Mantel ist dunkelgrün, nicht braun. Ist denn noch ein anderer Reiter an euch vorbei gekommen?“
Die Reiterin schüttelt nur mit dem Kopf, der von einer Gugel bedeckt ist. Tränen rinnen ihr aus den Augen.
Frieder bemerkt die Tränen und Mitleid steigt in ihm auf.
„Gerne würde ich versuchen euch zu trösten und den Schmerz zu lindern, der euch weinen lässt, doch suche ich einen Mörder und habe dafür nun leider keine Zeit. Ihr versteht sicher.“
Die Reiterin nickt nur leicht und treibt ihr Pferd wieder an, das in langsamem Schritt ungeleitet weiter die Straße verfolgt.
Noch kurz blickt Frieder der traurigen Gestalt hinterher. Dann wendet er sich, besieht sich den weiten Weg zurück, holt noch einmal tief Luft und rennt die Straße nun Richtung Franconovurd. Mist, Zeit verloren, denkt er sich.
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