„Eine wirklich erstaunliche Geschichte. Ich geb euch recht, Frau Magda. Bei nächster Gelegenheit rate ich Wikerus, den Mund zu halten. Und Gleiches werde auch ich tun. All zu leicht mag einer dies missverstehen, der es nicht aus eurem Munde hört. Umso eher, wenn etwas falsch gesagt wird. Seid bedankt für eure Offenheit.“
„Ich denke, es war nötig, dies klar zu stellen. Ich bedaure auch, nie eine Gelegenheit zur Aussprache mit der Gräfin gehabt zu haben. In den wenigen Augenblicken, da ich sie sah, bekam ich den Eindruck, sie mache mich für all ihr Unglück verantwortlich. Dabei hätte ich nie ein Wort über die Notzucht gesagt, wenn der Graf mich nicht derart gedrängt hätte. Sie muss so voller Bitternis sein, dass es über ein menschliches Maß hinaus geht.“
„Sicher, sicher. Ich sehe euren etwas betrübten Blick, Frau Magda. Würde es euch ablenken, uns noch ein kleines Liedchen zu singen? Ich hoffe, Wikerus hat damit nicht auch die Unwahrheit gesagt. Er meinte, ihr könntet angenehm singen und hättet oft ein passend Liedlein parat.“
Gerne nimmt Magda die Aufforderung an. Tatsächlich hat sie die Erinnerung an damals etwas betrübt. Auch wenn die Sprache nicht darauf kam, so hat es sie doch an Karl, ihren verstorbenen Mann erinnert, den sie bei der Geschichte auch kennen gelernt hatte.
„Ihr habt recht, Pessolt. Ein Liedchen mag gerade jetzt nichts Verkehrtes sein. Nur einen Moment Geduld.“ Hinter dem Schanktisch holt Magda ihre Laute hervor, um ihren Gesang zu begleiten.
„So höret nun mein Liedchen über den Doppelbiergraben.“
Doppelbiergraben
Kehrreim
Die Brücke in die Bule rein, die stürzte krachend ein,
nur weil des Bibers Zahn so hart, der nagte alles klein.
Der Zwerg und auch der Mönch, die kippten in den Bach hinein
und leider auch zwei Fass voll Bier, die fielen hinterdrein.
Zwei Weibern in der Bule ward das Fässchen einmal leer.
Erschrocken rief die eine aus: "Wir haben kein Bier mehr."
Sogleich darauf die zweite sprach: "Das ärgert mich gar sehr.
Denn morgen komm'n erst Zwerg und Mönch und bringen Neues her."
Kehrreim
Am Tag darauf zog los der Zwerg mit seinem Ochsgespann
und auf der Straße traf er dann den Mönchen irgendwann.
"Leg auf das Fass und auch den Karr'n, so kommen wir sodann
zur gleichen Zeit mit unserm Bier am Haus der Weiber an."
Kehrreim
Der Pfahlweg durch die Bule über manche Brücke führt,
doch eine dieser Brücken hat des Bibers Zahn berührt.
Der Ochse zog den Karren auf die Brücke ungerührt.
Den Absturz haben Zwerg und Mönch im Doppelbier gespürt.
Kehrreim
Kehrreim schneller
Begeistert klatschen der Händler und der Jüngling in die Hände.
Die Wirtin verwahrt die Laute wieder an ihrem Platz und setzt sich wieder zu dem Händler. „Es freut mich, wenn euch dies kleine Lied gefallen hat. Lasst uns jetzt das Geschäftliche bereden, Pessolt. Was führt ihr mit euch?“
Es folgt eine Zeit ausgiebigen Feilschens, das zur Zufriedenheit aller verläuft.
„Wunderbar, Frau Magda. Einfach wunderbar. Ich danke vielmals. Sagt, wart ihr schon einmal in Ascaffaburc? Eine wunderbare Stadt. Dort könnte man so ein Haus wie das eure wohl noch gebrauchen. Viele Händler gibt es dort, die auf der Durchreise gerne auch mal eine Nacht ruhen wollen.“
„Mich zieht hier nichts fort und meine Geschäfte haben es mir noch niemals erlaubt, auch nur weiter als ein paar Schritte ins Boierische zu tun. Ich bin es hier zufrieden.“
„Schade, doch wie ihr meint. Jetzt denke ich aber, es sei an der Zeit, der Ruhe zu pflegen. Ich wünsche eine gute Nacht.“, beendet der Gast die Verhandlungen.
„Gute Nacht, Pessolt. Und gute Nacht auch euch, Kuno.“
Kuno nickt nur, wie in Gedanken, und verschwindet in die Scheune. Bevor der Händler in die Kammer geht, sieht er noch kurz vor die Tür und schreit: „Bewacht mir mein Gut ordentlich. Dass mir ja nichts abhandenkommt bis morgen!“
Magda räumt noch kurz den Becher und den Humpen weg, bedeckt Frieder in seinem Stuhle mit einer Decke, löscht das Licht und folgt dann den Söhnen, die bereits vor Magdas Gesang in ihrer Kammer zu ihrer Schwester verschwunden sind.
Ein sonderbarer Kauz, dieser schweigsame Kuno.
* * * * *
Schon vor dem ersten Hahnenschrei ist Magda wieder auf den Beinen. Sie richtet den Frühstücksbrei für ihre Kinder, den auch Pessolt nicht verschmäht, bevor er weiterzieht. Selbst die Bediensteten des Händlers bekommen ihre Schüsseln gefüllt. Kuno hat sich noch nicht sehen lassen.
Frieder ist auf seinem Kontrollgang, wie er es nennt. Um seine Wichtigkeit zu unterstreichen ist er immer schon vor Magda draußen, um nach dem Rechten zu sehen.
„Magda, du musst kommen. Die Rinder drüben am Wald sind unruhig. Ich höre sie bis hierher rufen. Bestimmt ist ein wildes Tier dort an der Weide, das sie erschreckt.“, kommt er herein gestürmt.
Magda nimmt den Kessel vom Haken, damit der restliche Brei, der für Kuno bestimmt ist, nicht verbrennt. „Das wird wohl wieder die alte Bärin sein. Ihre Winterruhe ist vorbei. So langsam sollte sie etwas anderes zu fressen finden, als meine Rinder. Die sind zu teuer und sie kann nicht zahlen.“, scherzt Magda. Es ist nicht das erste Mal, dass sie einen Bären vertreiben muss. Sie wendet sich ihren Kindern zu, die am Tisch noch ihren Brei löffeln.
„Hör mir gut auf die großen Jungs, Methildis.“, spricht sie zu ihrer Kleinen und streicht ihr durch das Haar. Das Mädchen klopft begeistert in ihrer Schüssel herum und strahlt ihre Mutter an. Dann wendet sich Magda Magnus und Markward zu. „Ihr hört auf die Großen, solange ich fort bin. Ja? Und ihr beiden, ihr behaltet alles im Blick, Odo und Rudwin.“ Reihum gibt sie jedem ihrer Söhne einen Kuss auf das Haupt. „Ihr wisst, was alles zu tun ist. Passt auf euch auf. Und wenn es Probleme gibt, geht in die Bule zu eurer großen Schwester. Die wird euch immer helfen. Ich hab euch sehr lieb.“ Dabei greift sie zu ihrem ständigen Begleiter, dem Kampfstock.
„So hast du dich ja noch nie verabschiedet, Mutter.“, stellt Odo überrascht fest.
„Nicht? Dann hätte ich es vielleicht schon öfter tun sollen.“, antwortet Magda leichthin. „Komm, Frieder! Wir haben etwas zu tun.“ Damit eilt sie aus dem Haus, gefolgt von dem kleinen Halbling, der aber nicht mehr so schnell ist, mithalten zu können.
„Ich komme schon!“, ruft er hinterher und läuft so schnell, wie er es noch vermag. Bei gemütlichem Schritt wippen Halblinge wegen der sehr großen Füße immer auf und nieder. Jetzt aber ist davon nichts mehr zu bemerken. In Eile benutzen die Kleinen stets nur die Vorderfüße. Der Händlerzug setzt sich gerade langsam wieder in Bewegung in Richtung Franconovurd. In die entgegengesetzte Richtung eilt Magda und nicht auf der Straße, sondern abseits auf Feldwegen, um bald schon nach rechts zum Wald hin abzubiegen.
Nach geraumer Zeit ist sie am abgelegenen Ende der Weide angekommen. Sie muss nicht nach der Bärin suchen. Die Kühe stehen in der Ecke des Zauns zusammen gedrängt und muhen, was die Lunge hergibt. Kein Wunder, denn vor ihnen steht hoch erhoben ein Riesenvieh von einer Bärin. Bestimmt über 300 Pfund schwer und weitaus größer als Magda droht sie den Rindern mit wildem Gebrüll, noch unschlüssig, welches davon ihre Mahlzeit werden soll. Mit einem Sprung über den Holzzaun ist Magda auf der Weide und schreit noch im Laufen aus Leibeskräfte: „Hey, du alter Mitesser. Das ist mein Futter und geht dich gar nichts an.“
Im Grunde ist es gleich, was sie ruft. Es geht einzig darum, der Bärin Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Prompt reagiert das mächtige Tier, lässt sich auf alle Viere nieder und wendet sich, böse brummend, der unerwarteten Konkurrenz zu. Magda bleibt stehen und erwartet in Ruhe den unvermeidlichen Angriff des Raubtieres.
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