„Wie gemein.“, jammert sie trotzig. „Gernhelm, hilf mir doch.“
„Und wie soll ich dir helfen? Ich kann Dankwart nicht befehlen, gegen unseres Vaters Willen zu handeln. Das Ackerjahr beginnt bald und es gibt viel zu tun. Nach dem Winter muss für neue Vorräte gesorgt werden. Es war dieses Mal zwar nicht knapp mit den Nahrungsmitteln, doch denk an den prophezeiten schlimmen Winter. Wer weiß, was noch kommen mag. Die Vorhersagen von Gilbert Steinschleifer trafen noch immer ein. In die Vorratskammern passt noch etwas rein. Und ich weiß noch nicht, wie viele der Kitze und Frischlinge des vorigen Jahres der Kälte zum Opfer gefallen sind; zusätzlich zu dem was die Wölfe sich geholt haben.“
Dankwart nickt dazu und ergänzt: „Am Anfang kann man nie wissen, wie die Ernte ausfallen wird. Also muss man zuerst dafür sorgen, dass es ein gutes Jahr werden kann und den Grundstein dafür legen, indem man rechtzeitig die Saat in den Boden bringt.“
„Das ist so ungerecht. Nur mal gucken, wo andere lange Zeit suchen und forschen durften.“
Carissima ist eingeschnappt und geht in die Kammer zum Schlafen.
Obwohl die Prinzessin recht hat, dass im Berg nichts passieren kann, verabreden sich die drei Männer Wache zu halten. Das Los fällt auf Anschild als Ersten, danach Gernhelm und zuletzt Dankwart. Bis auf den jungen Kleybercher ziehen sich alle in ihre Kammern zurück.
Was dann von dieser Nacht berichtet werden wird, kann widersprüchlicher nicht sein und die Ereignisse sind bis heute nicht geklärt worden.
Anschild behauptet eine ruhige Wache gehabt zu haben. Er hat im Eingangsbereich der Gemeinschaftshalle an einem Tisch gesessen und noch ein wenig die Karte von Kleyberch studiert. Am Ende sei er gegangen, Gernhelm zu wecken und sich selbst schlafen zu legen. Irgendwann später habe ihn Carissima abgeholt und sie seien in ihre Kammer und durch eine Tür in der Rückwand in den Berg gegangen. Erst am anderen Tag seien sie wieder richtig wach geworden.
Gernhelm berichtet ebenfalls von einer ruhigen Wache. Um sicher zu sein, dass seiner Schwester kein Haar gekrümmt wird, bezieht er direkt vor ihrer Tür Posten. Keiner der anderen habe seine Kammer verlassen. Kurz vor Ende der Wache sei Dankwart erschienen und habe ihn abgelöst. Er war etwas früher wach geworden und so wurde Petrissa nicht versehentlich mit ihm geweckt.
Auch in Dankwarts Wache geschieht nichts. Leise geht er zwischen den Kammern hin und her und überlegt immer noch, wie die zwei Bücher übersehen werden konnten. Er findet dafür aber keine Erklärung, außer an seiner eigenen Aufmerksamkeit zu zweifeln.
Carissima hat fest geschlafen, als sie von Anschild geweckt wurde. Er hat ihr eine Tür in der Rückwand der Kammer gezeigt, durch die sie in den Berg gelangt sind. Sie sei dann erst am anderen Tag wieder wach geworden.
Petrissa hat als Einzige nichts zu berichten. Sie hat geschlafen. Doch will sie im Halbschlaf eine schwere Tür zuschlagen gehört haben.
Einzig nachweislich von allem bleibt die Tatsache: Carissima und Anschild sind seit dieser Nacht verschwunden.
Das Ausbleiben des gefürchteten Winters erregt allseits Erstaunen. Eigentlich kann man die paar Tage nicht einen Winter nennen. Auch wenn es zeitweilig ungemein kalt wurde. Da hat man schon ganz anderes erlebt. Der Frühling hat mit Macht Wochen vor der üblichen Zeit begonnen. Viele stellen sich die Frage: Was mach ich nun mit den reichlichen Vorräten?
Da gibt es vor allem einen, der ein sehr langes Gesicht macht; Laurentz, der Abt in St. Wolfgang. Immer wenn er an die Massen der eingelagerten Ernteerträge denkt, so wie jetzt, wird ihm speiübel. Nicht nur, dass er viel dafür bezahlen musste, die freien Bauern und Grafen hatten ihn ganz gewaltig geschröpft oder haben garnichts verkauft, weil sie durch die Zwerge von der Weissagung wussten. Jetzt droht auch noch bei dieser Wärme alles zu verrotten. Den Brüdern gelingt es nur noch unter größter Anstrengung, die Nahrungsmittel zu erhalten. Wie lange würde man den Erhalt noch leisten können? Anstelle der Messen sind schon Gebetsgesänge getreten, damit die Brüder ihre Arbeit im Lager nicht unterbrechen müssen. Wann würde er den Auftrag erteilen müssen, alles zu verwerten, um wenigstens einen Teil davon noch länger lagern und verwenden zu können? Wie zum Hohn lacht ihm durch das Fenster, an dem er steht, die Sonne ins Gesicht.
Verflixte Prophezeiung in ebensolcher verflixten und verbotenen Schrift. Irgendwann kann er seinen Fehler nicht mehr verheimlichen und der Bischof wird Rechenschaft von ihm verlangen. Gut, er könnte, nein, er würde Bruder Urban die Schuld geben, weil er ihn falsch beraten hat. Die Verantwortung aber würde er ihm nicht auflasten können. Die trägt er, Abt Laurentz, allein. Wie lange würde er dann noch Abt sein? Wahrscheinlich keinen Tag mehr. Die verbotene Schrift ist schon Grund genug, das Kloster auf der Stelle zu schließen.
Langsam wendet er der verbrecherischen Sonne den Rücken und sich dem Bruder Urban zu, der schon eine ganze Weile still und geduldig hinter ihm steht und wartet.
Der Abt mustert die verschmutzte Kutte des Bruders, der direkt aus dem Getreidelager gekommen ist. Früher war er noch wütend gewesen und hat Urban mit den schlimmsten Strafen gedroht, was dieser demütig hat über sich ergehen lassen. Nun ist nur noch Resignation das dominierende Gefühl.
„Wie sieht es aus, Bruder Urban? Was könnt ihr mir berichten?“
„Es tut mir wirklich aufrichtig leid, Bruder Abt. Leider nur das gleiche wie gestern. Wir haben die Fenster des Tags mit dicken Tüchern verhängt, um die Sonnenwärme nicht herein zu lassen und nehmen sie für die Kühle der Nacht wieder weg. In längstens drei Wochen muss das Korn gemahlen und Gemüse und Obst verwertet werden.“
„Wo war der Fehler? Warum war die klare Prophezeiung doch miss zu verstehen?“
„Ich weiß es nicht, Bruder Abt. Ich weiß es sogar zweimal nicht, denn die Zwerge hatten ja eine übereinstimmende Vorhersage.“
„Das ist es ja, weswegen ich bereit war, der Prophezeiung zu glauben. Habt ihr schon Nachricht von den Zwergen? Sicherlich haben die nicht so schwerwiegende Probleme in ihrem kühlen Berg wie wir.“
„Bis jetzt nicht, Bruder Abt. Doch ich erwarte Wilbalt Eisenbieger heute Abend. Ich hoffe, er wird nochmals sein Buch mitbringen, dass wir darin Nachforschungen anstellen können. Unsere Schrift habt ihr in Verwahrung. Vielleicht, dass ich darin etwas fände?“, versucht Urban sein Glück.
Laurentz sieht nachdenklich den Bruder an, wendet sich dann tatsächlich um und gibt, wenn auch widerwillig, die Schriftrolle aus einer Truhe heraus.
„Geht dort an das Pult und studiert die Schrift. Die Rolle wird diesen Raum nur noch als Asche verlassen. Gebt euch Mühe. Ich brauche eine Lösung. Dringend!“
* * * * *
Abt Laurentz hat recht. Bei den Zwergen ist das Problem, trotz deutlich größerer Menge, bei weitem nicht so dramatisch. Durch die Kanäle in der Festung ist alles gut gelüftet und ständig kühl und dunkel gelagert. Doch trotz dieser hervorragend zu nennenden Umstände ist auch hier ein Ende der vertretbaren Lagerzeit langsam in Sicht. Verständlicher Weise ist das aber im Moment nicht König Sigurds Hauptproblem. Vor Kurzem ist sein Sohn gekommen und hat die schlimme Nachricht vom Verschwinden der Schwester überbracht. Schon seit Tagen haben sie in Kleyberch gesucht und gerufen, geklopft und gehorcht. Nicht bei Tag und nicht bei Nacht haben die Verbliebenen geruht. Vergebens. Weder Carissima noch Anschild ist auffindbar. Sie sind spurlos verschwunden. Den Kleyberch verlassen haben sie nicht. Das ist sicher, denn das Tor war immer noch von innen verschlossen vorgefunden worden.
„Verfluchtes Kleyberch. Erst gibt es uns die Zwerge zurück, dann das alte Wissen. Und nun nimmt es mir mein Kind. Was ist mit dieser Festung los? Welches Geheimnis birgt sie noch?“
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