Schwieriger werde es, für die beiden Buben eine Familie zu finden, die sie aufnehmen werde. Es könnte so weit kommen, dass sie getrennt, an verschiedenen Orten, aufwachsen müssten. Er werde in der Vormundschaftskommission, der er angehöre, das Problem zur Sprache bringen. Sicher werde eine sachdienliche Lösung gefunden. Ob ihr Vater dannzumal den Vorschlägen der Vormundschaft zustimme, werde sich zeigen. Den Hof würde ihr Vater kaum allein weiter bewirtschaften können. Ob sich jemand finde, der mit dem cholerischen Mann leben wolle, stehe in den Sternen. Auch Elsi benötige von ihrem Vater das Einverständnis, eine Lehre als Köchin anzutreten. Alles werde schwierig werden. Zu hoffen sei, dass nach dem Tod der Mutter ihr Vater eher mit sich reden lassen werde. Im Moment könne er nichts mehr tun als zu versprechen, sich in den kommenden Wochen gründlich mit den zu erwartenden Problemen zu befassen.
Der von der Wanduhr jede Viertelstunde klingende leise Ton ermahnte Elsi zum Aufbruch. Sie durfte nicht allzu lange wegbleiben, ihr Vater würde sonst nach den Gründen für das Ausbleiben fragen. Beim Pfarrer, der sie bis zum Tor begleitete, bedankte sie sich und eilte den Hügel hoch.
Keine fünf Wochen später lag Linda an einem Morgen tot in ihrem Bett. Albert verzog sich in eines seiner Verstecke und überliess es Elsi, alles Notwendige zu veranlassen.
Dem Leichenwagen, der Lindas Sarg zum Friedhof unterhalb des Städtchens fuhr, folgte eine grosse Trauergemeinde. Der Pfarrer hatte sein Versprechen eingehalten. In der Sonntagspredigt redete er über die Schriftgelehrten und Pharisäer, über Besserwisser und Fundamentalisten. Über solche, die lieber ausgrenzen als tolerant leben. Er entschuldigte sich bei Lindas Seele über das Verhalten seines Vorgängers. Auf der Kanzel stehend, schüttete er aus einem Becher Asche auf sein Haupt.
Albert ging hinter dem Leichenwagen bis zum Friedhof. Während vier Männer den Sarg aus dem Wagen trugen, verschwand er wortlos vom Friedhof.
Elsi blieb mit ihren Brüdern, bis das Grab zugeschaufelt war und begab sich dann zurück zum Hof, wo sie ihren Vater weinend in der Küche sitzend fand.
Eine Woche danach überbrachte der Weibel eine Vorladung des Gemeinderats. Widerwillig folgte ihr Albert. Auch er hatte sich Gedanken um die Zukunft seiner Buben gemacht, doch fand er keine ihm zusagende Lösung. Mit einem unguten Gefühl trat er vor den Gemeinderat. Vor den jungen Doktor, der seit ihrem heftigen Zusammenstoss vor einigen Jahren mittlerweile zum Gemeindevorsteher gewählt worden war.
Vor dem Sitzungszimmer wachte der Dorfpolizist. Er war aufgeboten, um einzugreifen, falls Albert ausfällig werden sollte. Rasch und ohne Umschweife verlas der Gemeindeschreiber den Sachverhalt:
Alberts Hof sei hoch verschuldet. Nach dem Tod seiner Frau habe der Arzt die Kosten für die seit dem Ausbruch ihrer Krankheit geleisteten ärztlichen Behandlungen und die verabreichten Medikamente erhoben.
Er bezifferte die Summe und fragte Albert, wie er gedenke, die Rechnung zu bezahlen. Zur Säule erstarrt, begriff Albert, dass er nie im Leben diese Summe würde aufbringen können. Sein Hof war zu hoch verschuldet, als dass er diesen noch zusätzlich belehnen konnte. Er zischte den Doktor an: «Jetzt hast du Gauner, was du schon immer geplant hast.» Er solle sich benehmen, sonst rufe er den Polizisten, mahnte der Gemeindeschreiber und verlas den vorbereiteten Beschluss:
Die bestehenden Schulden auf dem Hof von Albert Stoll erhöhen sich um den Betrag der Rechnung des Doktors. Damit übersteigen die Schulden den Wert des Hofes. Sollte der Schuldner die Rechnung des Doktors nicht binnen dreissig Tagen begleichen, wird der Hof mit der ganzen Fahrhabe versteigert. In Anbetracht des tragischen Todes der Ehefrau Linda und den dadurch zu Halbwaisen gewordenen Kindern macht der Doktor wohlwollend eine grosszügige Geste.
Das Angebot, das er verlesen werde, gelte jedoch nur, wenn Albert diesem innerhalb von zehn Minuten nach dem Verlesen zustimme. Das Angebot des Doktors laute wie folgt:
Der Gläubiger Dr. Baldinger kauft den Hof zum Preis der heute auf dem Hof lastenden Schuld. Er verzichtet auf die Geltendmachung von Ansprüchen, entstanden aus ärztlichen Leistungen zugunsten der verstorbenen Linda Stoll. Die Gemeinde bietet Albert Stoll die Stelle eines Wegmachers und Totengräbers an. Die Vormundschaft wird innerhalb der kommenden vier Wochen über eine Fremdplatzierung der beiden dreizehnjährigen Buben befinden. Die Tochter Elsi kann über ihre Zukunft mitentscheiden.
Albert hatte verstanden. Die Rache des Doktors war angekommen. Er musste büssen für sein Aufbegehren gegen den Landkauf und das von ihm verweigerte Wegrecht. Kurz bevor er zu explodieren drohte, verliess er den Raum. Auf der Wartebank im Treppenhaus sitzend, stierte er bewegungslos auf den abgetretenen Steinboden. Er beobachtete die teilweise ausgebrochenen Fugen zwischen den Steinplatten. Sah die abgesplitterten Ecken der Schiefersteine und verfolgte die in den Platten sichtbaren Venen, die am Ende der Platten rücksichtslos getrennt worden waren und an der Folgeplatte keine Fortsetzung fanden.
«Sogar die harten Steine haben die Leute nach ihrem Willen zerschnitten. Wie soll sich ein Mensch, der weich und verletzlicher ist als hartes Gestein, gegen die Stärke der Mächtigen und der Behörden wehren. Wo bleibt eines armen Mannes Würde? Wie soll sich jemand wehren, der keine Freunde hat?» Keinen Gedanken verlor er über eigene Fehler, über die Gründe, warum er keine Freunde hatte. Selbstkritik blieb ihm fremd.
Trotz der Empörung erkannte er seine und die für die Kinder aussichtslose Lage, er sah keinen anderen Weg, den er hätte präsentieren können. Es wurde ihm bewusst, dass er weder die notwendigen finanziellen Mittel aufbringen konnte, noch in der Lage war, den Hof ohne fremde Hilfe weiter zu bewirtschaften. Die Einsicht schmerzte, aber es blieb ihm kein anderer Weg, er musste das Angebot annehmen. Auf seinen Hof verzichten und in den Dienst der Gemeinde treten!
Geknickt, mit hängendem Kopf, ging er zurück in den Ratssaal. Er sei einverstanden mit dem Vorschlag, sein einziger Wunsch sei, dass seine beiden Buben nicht bei fremden Leuten aufwachsen müssten.
Erst spät in der Nacht kehrte Albert im Vollrausch auf den Hof zurück. Auch am Tag danach erfuhren Elsi und die Zwillinge nichts von dem, was vorgefallen war. Nichts darüber, dass sie in Kürze den Hof verlassen mussten, dass die Gemeinde eine Familie suchte, in der die Buben künftig leben könnten.
Unter der Leitung des Pfarrers suchte die Vormundschaft in der Verwandtschaft von Albert und Linda nach Angehörigen. Ein Vetter Alberts anerbot sich, einen der beiden Jungen bei sich aufzunehmen. Beide seien zu viel, habe er doch schon sechs eigene Mäuler zu stopfen. Von Lindas Tod erfahren hatte auch ihre in Holland lebende Schwester Anna. In einem Schreiben an die Gemeinde anerbot sie sich, beide Buben bei sich aufzunehmen und ihnen eine christliche Erziehung angedeihen zu lassen. Es sei ihre Christenpflicht, als engste Verwandte der Verstorbenen für die Erziehung und den Lebensunterhalt der Kinder zu sorgen. Der Gemeinde würden dafür keine Kosten entstehen.
Der Streit zwischen dem Pfarrer als Vorsteher der Vormundschaftsbehörde und dem Doktor als Gemeindevorsteher war heftig und nachhaltig. «Auf keinen Fall kommen die Buben in die Fänge dieser Sektierer», polterte der Pfarrer. Anders sah es der Doktor, dem die Gemeindekasse näher lag als das Wohl der Kinder. Es sei ein Glücksfall, wenn eine nahe Angehörige sich der Zwillinge annehme. Am Ende gewann der Doktor. Der einzige Kompromiss, zu dem er Hand bot, war, dass nur einer der beiden Buben der Tante in Holland anvertraut wurde. Albert musste eine weitere Demütigung erleiden. Dass ausgerechnet seine von ihm gehasste Schwägerin die Erziehungsgewalt über eines seiner Kinder erhielt, machte ihn wütend und traurig.
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