Kaum war er weg, kroch Albert aus seinem Versteck. Noch Stroh in den Haaren, trat er in die Küche. Ob der Wichtigtuer endlich weg sei, polterte er. Was mit der Mutter sei, er wolle anderntags emden, und dazu sei jede Hand vonnöten. Elsi hatte an der Tür gehorcht, als der Doktor mit Linda gesprochen hatte. Jetzt begehrte sie auf. Die Mutter werde nicht helfen können, sie sei schwer krank, es wäre das Beste, wenn sie zur Kur gehen würde, habe der Doktor gesagt. Sie habe von ihm ein Pulver erhalten, das sie der Mutter geben müsse.
Die Frühgeburt hatte Elsi schon weggebracht. Wenn der Vater mit der Milch ins Städtchen fuhr, wollte sie diese hinter dem Haus vergraben. Der Vater sollte davon nichts erfahren.
Albert wurde still. Wenn es wirklich so war, wie Elsi berichtete; wenn Lindas Krankheit derart schwer war, kämen harte Zeiten auf ihn zu. Ohne Linda würde er den Hof nicht halten können.
Wie sollte er eine Kur für Linda bezahlen? Er wusste schon jetzt nicht mehr, wie er den nächstens fälligen Zins bezahlen sollte. Und selbst wenn er die Mittel für eine Kur hätte, die Kur keine Heilung brächte, wenn Linda trotzdem sterben würde, dann wäre es hinausgeworfenes Geld. Der Geizhals in ihm gewann Oberhand. «Abwarten», dachte er und sagte: «Wenn Mutter mir beim Emden nicht helfen kann, werden du und die beiden Buben morgen nicht zur Schule gehen, ihr werdet mir helfen.»
Es folgte ein Jahr der Hoffnungslosigkeit. Lindas Körper zerfiel zusehends, die immer häufiger wiederkehrenden Hustenanfälle waren blutig und schleimig. Über die Hälfte ihrer Zeit verbrachte Linda im Bett. Vom Arzt, der sie regelmässig besuchte, erhielt sie das neue Medikament, von dem sich die Mediziner Linderung und Heilung versprachen. Der stete Verlust ihre Kräfte machte Linda jedoch bewusst, dass ihr Leben zu Ende ging. Sie sorgte sich um ihre Kinder, die nach ihrem Tod mutterlos aufwachsen müssten. Den Doktor bat sie, seine Besuche einzuschränken. Sie machte sich Sorgen über die Kosten, die irgendwann in Rechnung gestellt würden.
Darüber solle sie sich den Kopf nicht zerbrechen, es werde sich schon finden, waren jeweils die Worte des Doktors. Während all seiner Besuche war Albert für ihn unsichtbar. Wenn er den Motor des Autos hörte, verschwand er auf den Heustock, im Wald oder hatte auf einer entfernten Wiese zu tun.
Elsi hatte ihre Schulzeit beendet. Sie blieb auf dem Hof und übernahm Lindas Arbeiten. Dazu kam die Pflege der kranken Mutter. Für das junge Mädchen eine schier unlösbare Aufgabe. Kein Tag verging, an dem sie nicht vom Vater beschimpft wurde. Er rügte sie wegen nichtigen Dingen, schalt sie faul und ungeschickt. Nichts konnte sie recht machen, dauernd polterte er und beklagte sein hartes Los. Elsi schwor sich, nach dem voraussehbaren Tod der Mutter vom Hof wegzugehen. Solle der Vater selbst schauen, wie er zurechtkomme.
So wie es früher ihre Mutter getan hatte, musste Elsi jetzt einmal die Woche ins Städtchen zum Einkaufen. Einen dieser Gänge nutzte Elsi zu einem Besuch beim Pfarrer.
Von seinen Kindern hatte Albert keines taufen lassen. Weder die Sonntagsschule noch den Konfirmandenunterricht durften sie besuchen. Den Pfarrer kannte Elsi von der obligatorischen Religionsstunde in der Schule. Der junge Pfarrer kannte die Geschichte und die Gründe, weshalb Albert nichts mit der Kirche zu tun haben wollte. Er hatte sich seine eigene Meinung zum Verhalten seines Vorgängers und über die Gründe, die zum Bruch zwischen Kirche und dem Ehepaar Stoll geführt hatten, gemacht. Albert hatte ihm nicht erlaubt, die schwer kranke Linda zu besuchen. Alle Bemühungen um eine Erlaubnis zum Besuch hatten in wüsten Beschimpfungen geendet. Seelenkrämer, Betrüger und Tunichtgut waren die harmloseren Anwürfe, mit denen der Pfarrer vom Hof gejagt worden war. Albert traute keinem Menschen, der Hass zur Institution Kirche hatte seine Hintergründe.
Zuhinterst in einem engen Krachen im Emmental waren Linda und ihre Schwester geboren und aufgewachsen. Die meisten Bewohner der einsam gelegenen Höfe waren Angehörige der Täufer. In dieser strengen Glaubensgemeinschaft herrschte Zucht und Ordnung. Die täglich eingetrichterten Glaubensgrundsätze zu hinterfragen war ein Sakrileg, das bestraft wurde. Heiraten war nur innerhalb der Gemeinschaft möglich und vom Willen und Einverständnis der Oberen und Älteren abhängig.
Linda war aus diesem Gefängnis des Denkens ausgebrochen und ohne zu fragen nach Waldenburg gezogen. Als Magd hatte sie sich auf dem Hof von Alberts Eltern verdingt. Ihre Familie hatte sie verstossen und jeden Kontakt abgebrochen. Über unbekannte Kanäle hatte Lindas Vater von ihrer Verlobung mit dem «ungläubigen» jungen Albert erfahren.
Ihre ältere Schwester Anna hatte sich in ihrer Gemeinschaft als williges, sich den Vorschriften unterziehendes Mitglied hervorgetan. Ein herumreisender Prediger aus Holland fand Gefallen an ihr. Der Rat der Gemeindeältesten verhandelte mit dem Prediger die Heirat mit Anna. Die Prüfungen und Abklärungen der holländischen Gemeinde hatte sie bestanden. Als demütige, sich ihrem Ehemann unterwerfende Frau würde sie die ideale Gattin des Predigers werden. Alles wäre perfekt gewesen, wenn da nicht die Schwester ausgebrochen wäre und mit einem Ungläubigen die Ehe eingehen wollte.
Der Rat der Ältesten beauftragte Anna und den Gemeinschaftsvorsteher, Linda zu besuchen und wieder zurück auf den rechten Weg zu bringen. Der Besuch auf dem Hof von Alberts Eltern endete handgreiflich. Linda widerstand den zuckersüssen, mit Bibelzitaten geschmückten Aufforderungen zur Rückkehr und schickte die beiden weg. Da begannen die beiden Besucher zu drohen, mit dem Teufel und dem Fegefeuer; die Pest und andere schlimme Krankheiten wünschten sie ihr. Albert, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, verlor die Beherrschung. Mit einem Seigel bewaffnet verprügelte er den Gemeinschaftsvorsteher, der blutend und schnellen Schrittes den Hof verliess. Nicht ohne dabei wüste, aus der Bibel zitierte Flüche auf den Hof und seine Bewohner zu schreien.
Kurz nach diesem Ereignis wollten Linda und Albert heiraten. Aus seiner fundamental begründeten Überzeugung verweigerte der Pfarrer ihnen die kirchliche Trauung. Linda war ungetauft. Bei den Täufern wäre sie als erwachsene Frau getauft worden. Ohne Taufe keine Ehe. Nach dem Verständnis des Pfarrers hätte Linda während eines Jahres den Konfirmandenunterricht besuchen müssen, um dann anlässlich einer Zeremonie gleichzeitig getauft und konfirmiert zu werden. Das war Linda und Albert zu viel. Sie wollten kein weiteres Jahr unverheiratet bleiben. In dieser Situation war der Bruch mit der Kirche unvermeidlich. Sie blieben ein Paar ohne kirchliche Trauung. Ein Paar, das sich nur vor dem Zivilstandsamt trauen liess, hatte es zuvor im Städtchen Waldenburg noch nie gegeben. Das konnte nicht gut gehen. In der Bibel hatte der Pfarrer am folgenden Sonntag die für sein Predigtthema geeignete Stelle gefunden. Statt Toleranz und Verständnis zum Los der beiden säte er Zwietracht und Ausgrenzung.
Das Pfarrhaus befand sich in einer hinter hohen Mauern liegenden alten Villa. Verstohlen hatte Elsi das grosse Tor in der Mauer so weit geöffnet, dass sie sich hindurchquälen konnte. Keiner sollte sie sehen, niemand ihrem Vater vom Besuch im Pfarrhaus erzählen. Nach dem Ziehen an der Kordel, die die Hausglocke zum Schellen brachte, öffnete der Pfarrer die Tür und bat Elsi ins Haus. Sie berichte ihm von ihren Ängsten, der Schwere der Krankheit ihrer Mutter. Dass diese bald sterben müsse und sie nicht wisse, was nachher komme und was mit ihr und ihren Brüdern geschähe. Und wie es sei, wenn ihre Mutter als Ungetaufte sterbe. Ob sie ein anständiges Begräbnis bekomme.
Tief beeindruckt von Elsis Sorgen musste sich der Pfarrer erst sammeln. Er rief seine Frau und bat sie, ihnen Tee und Konfekt zu bringen. Er werde dafür sorgen, dass ihre Mutter ein würdiges Begräbnis erhalte. Eine Totenfeier wie jede andere Person im Städtchen. Sie brauche sich darüber keine Gedanken zu machen.
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