Der Pfarrer, der sich für die Fehler seines Vorgängers öffentlich entschuldigt und Asche auf sein Haupt gestreut hatte, musste büssen. Von den Räten der Kirchgemeinde wurde er gerügt und musste sein Verhalten rechtfertigen. Anders als die Bevölkerung, die dem fortschrittlichen Pfarrer grossen Respekt für seine Offenheit und selbstkritischen Worte zollte, fanden sie sein Verhalten unwürdig. Er sei zu progressiv, ein Theater habe er auf der Kanzel aufgeführt. Und alles wegen der verstorbenen Frau des mit den meisten Gemeindemitgliedern zerstrittenen Stoll. Kurzum, dem Pfarrer wurde nahegelegt, eine neue Wirkungsstätte zu suchen. Ein sich dem Wort der Bibel, an der Frömmigkeit der ernsten, schnörkellosen protestantischen Kirche verpflichteter Pfarrer war bald gefunden und an die Stelle des jungen gesetzt. Man nahm es hin, dass die Zahl der Kirchenbesucher merklich abnahm. Der Versuch eines Pfarrers, der Kälte des Protestantismus etwas mehr Wärme zu verleihen, war an der Sturheit einiger intoleranter, einflussreicher und in der Vergangenheit verhafteten alten Herren gescheitert.
An einem kalten Novembermorgen brachte der Gemeindeschreiber den kleinen Max nach Basel. Ein Stück Brot und etwas Käse als Proviant und unter dem Arm eine Kartonschachtel mit seinen wenigen Habseligkeiten, stieg Max in Basel in den Zug nach Utrecht. Sein Bruder Ruedi wurde am gleichen Tag vom Vetter seines Vaters abgeholt. Elsi trat auf einem Gutsbetrieb eine Lehre als Köchin an.
Nur wenige Möbelstücke konnte Albert in die kleine, von der Gemeinde zugewiesene Dreizimmerwohnung mitnehmen. Dr. Baldinger liess den Hof als Gerätehaus umbauen, in die Wohnung kam der Hausgärtner, der alles rund um seine neu gebaute Villa in Ordnung hielt.
Max
Über sechzehn Stunden dauerte die Eisenbahnfahrt von Basel nach Utrecht. Grosse Traurigkeit hatte Max erfüllt. Sich von seiner Schwester und seinem Bruder zu trennen, war ihm schwergefallen. Drei Tage vor der Abfahrt war der Vater verschwunden, Max hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Einzig das Abenteuer der langen Bahnfahrt milderte seinen Abschiedsschmerz. Der Gemeindeschreiber hatte ihm das Leben in Holland in den schönsten Farben beschrieben. Er sei ihm sogar etwas neidisch, denn er sei selbst noch nie ausserhalb der Landesgrenze gewesen. Während der ganzen Zugfahrt drückte Max kein Auge zu. Er wollte sich nichts entgehen lassen, nichts verpassen. Alles war ihm neu; die Bahnhöfe, wo sich Leute von Freunden und Familie verabschiedeten, andere, vom Zug kommend, empfangen wurden. Ein Treiben, das er sich auf dem einsamen Hof in den Jurahöhen nicht hatte vorstellen können. Dann das Rangieren der Dampfloks, die Pfeiftöne vor der Abfahrt und unterwegs. Dem aufgeweckten Jungen war dies neu und unbekannt.
Der Zug erreichte Utrecht am frühen Morgen des 10. Novembers 1930. Auf dem Bahnsteig nahmen ihn Tante Anna und ihr Mann in Empfang. Hinter ihnen hertrottend, den Karton mit seinen wenigen Habseligkeiten unter dem Arm, ging’s zum vor dem Bahnhof stehenden leichten Einspänner. Vom Mann wurde er auf den auf der Brücke des Wagens liegenden Strohballen gehievt. Anna und ihr Mann setzten sich auf den Bock, und in leichtem Trab ging’s stadtauswärts. Noch im Stadtgebiet, legte sich Max aufs Stroh und schlief bald ein. Weder die Kälte noch das Rumpeln über die vielen Schlaglöcher hielten ihn vom Schlaf ab. Vor dem Hof des Onkels, wie Max Annas Gatte fortan nennen musste, wurde er von der Tante unsanft geweckt. Während ihr Mann die Pferde versorgte, brachte Anna den schlaftrunkenen Max ins Haus. In der Dunkelheit nahm er kaum etwas von der neuen Umgebung wahr. Tante Anna setzte ihm in der Küche ein Glas mit warmer Milch vor, das er in einem Zug leerte.
«Max», belehrte ihn seine Tante, «in unserem Haus danken wir immer unserem Schöpfer für alles, was er uns schenkt, nie wieder wirst du etwas trinken oder essen, bevor du dem Herrn für seine Gaben gedankt hast.» Zu müde von der Reise, nahm Max die Ermahnung kaum wahr. Vom Gespräch seiner Tante mit ihrem Mann, der mittlerweile in die Küche getreten war, verstand er kein Wort. Die Tante führte ihn in eine Dachkammer, wo er sich vor deren Augen ausziehen und ein langes Nachthemd anziehen musste. Noch während des von der Tante gesprochenen Nachtgebets fiel er in einen tiefen Schlaf.
Für Max begannen sieben Jahre im Kreis seiner Tante und deren Glaubensgemeinschaft. Mit dem Makel eines Kindes, entsprungen einer unheiligen und ohne kirchlichen Segen gelebten Ehe. Dem einer abtrünnigen Mutter und eines dem Teufel zugewandten Vaters in Sünde gezeugt und geborenen, musste Max durch die harte Schule der Glaubensgemeinschaft. Nichts war wie zuvor. Schluss mit den kleinen Freiheiten, die sich Max und sein Bruder während der langen Jahre, als die Mutter krank im Bett gelegen war, genommen hatten. Jetzt, in der Obhut und unter der Kontrolle der Tante, musste er sich täglich waschen und saubere Kleidung tragen, die aussah wie die der anderen Kinder der Täufer-Gemeinschaft. Allein schon diese radikale Umstellung seiner Lebensumständen barg genügend Zündstoff. Die auf pingelige Sauberkeit achtende Tante ermahnte ihn ständig, es setzte Strafen ab, Ohrfeigen und nicht selten Stockschläge auf den Hintern. Für die Körperstrafen war der Onkel zuständig. In der Gemeinschaft war dieser hoch geachtet und als Verkünder der Heiligen Schrift angesehen. Für die brutale Züchtigung mit einem Stock fand er genügend Bibelzitate, mit denen er sein Handeln rechtfertigte. Während er auf Max einschlug, zitierte er seine biblischen Weisheiten.
Max musste ein grobes, auf Zucht und Ordnung basierendes Regime über sich ergehen lassen. Seine Zieheltern hatten die Absicht, aus ihm ein gläubiges Mitglied der Gemeinschaft zu machen. Bis zur Taufe als Erwachsener sollte er ein den Lehren der Täufer folgender, gläubiger Christ werden. Die ihm bei seiner Ankunft unverständliche Sprache lernte er in kurzer Zeit. Es dauerte nur wenige Monate, bis er in der Schule den Lehrern folgen konnte. Die anfänglichen Sprachprobleme und die Abweichungen vom Lehrplan in der Schweiz bedingten die Zurückstufung um ein Schuljahr. Keine Nachricht, kein Brief von seinem Bruder oder von Elsi erreichten ihn. Max litt, er hatte Heimweh nach seinem Zwillingsbruder. Er sehnte sich zurück auf den Hof, auf dem sie zusammen gespielt und herumgetollt hatten. Nur zu gerne hätte er das strenge Leben in Holland gegen die Mühen auf dem väterlichen Hof, den Schmutz und die nicht voraussehbaren Launen seines Vaters getauscht.
Gut drei Jahre lebte Max auf Tante Annas Hof, als sich die Stimmung in der Gemeinschaft verdüsterte. Fremde Männer von Täufergemeinden aus dem Schwarzwald in Deutschland kamen zu Besuch. Dann folgten deren Familien mit ihrem Hab und Gut nach und fanden Unterschlupf bei ihren holländischen Glaubensbrüdern. Auch auf Tante Annas Hof zog eine Familie ein. Max musste seine kleine Kammer mit drei Buben der Zugezogenen teilen. Ein zweites Bett wurde ins Zimmer gestellt, sodass sich immer zwei ein Bett teilen mussten. Auch Mädchen gehörten zur Familie der Zugezogenen. Für sie wurden im Schlafzimmer ihrer Eltern Strohsäcke als Schlafunterlagen bereitgestellt. Zu den durch die Enge im Haus aufkommenden Spannungen gesellte sich die von den Geflüchteten geschürte Angst vor Verfolgung.
Wenige Jahre zuvor hatten in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernommen. Alle Organisationen und Gemeinschaften, die sich deren Weltanschauung verweigerten, wurden verfolgt. Die Täufer anerkannten wohl die Obrigkeiten, verweigerten jedoch jeglichen Militärdienst. Deshalb wurden sie als pazifistische Organisation verfolgt, Militärdienstverweigerer ins Gefängnis oder zur Umerziehung in Lager gesteckt. Es blieb ihnen nur die Flucht.
Der Aufenthalt in Holland sollte nur ein vorübergehender sein. Sie glaubten, dass der Schöpfer ein derart menschenverachtendes Regime nicht dulden und es bald vernichten würde. Die Zuversicht, auf ihre Höfe zurückkehren zu können, schwand, je länger sie von dort weg waren und die Angst, selbst in Holland von den Nazis verfolgt zu werden, stieg. Irgendwann entschied der Rat der Ältesten, Tante Annas Mann nach Amerika zu schicken. Mit dortigen Glaubensbrüdern sollte er die Übersiedlung der Verfolgten in die USA vorbereiten. Nach drei langen Monaten kehrte er mit der guten Nachricht zurück, dass die Täufergemeinde in Amerika alle Flüchtlinge aufnehmen werde und gegenüber dem Staat die für die Einreise notwendigen Bürgschaften leiste. Die Flüchtlinge verkauften ihren holländischen Brüdern alle Geräte, die sie nicht mit dem Schiff, das sie nach Pennsylvanien bringen sollte, mitnehmen konnten.
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