Nichts konnte ihn jetzt noch halten, jedem am Tisch machte er derbe Vorwürfe. Keiner traute sich, nur einen Mucks zu machen. Vaters Hand war gefürchtet und der Seigel nicht weit.
Schon während Vaters Monolog hatte Elsi ein Stöhnen gehört. Doch um aufzustehen und zur Mutter zu schauen fehlte ihr der Mut. Erst ein lauter Schrei liess sie die Angst vor dem Vater vergessen und von der Bank aufspringen. Ohne einen Blick zum Vater eilte sie in die Stube. Die Mutter hielt sich mit beiden Händen den Bauch und wimmerte. «Elsi, ich habe das Kind verloren.»
Linda kannte diesen Schmerz. Seit der Heirat mit Albert hatte sie bereits vier Fehlgeburten erlitten. Der Schmerz war diesmal jedoch grösser als je zuvor. Sie keuchte auf der Liege und rang nach Luft. Die Liege war blutbefleckt von der Frühgeburt, ihre Kleider blutig vom Husten. Für die erst vierzehnjährige Elsi ein schrecklicher Anblick.
«Elsi, ich werde sterben, ich bekomme keine Luft, ich werde ersticken.»
Elsi ging zurück in die Küche. Alle starrten sie an. «Was ist mit Mutter?», fragte Max. «Der Doktor muss sofort geholt werden, Mutter erstickt sonst», schrie Elsi aufgeregt ihren Vater an. Albert, der noch Minuten zuvor keinen guten Faden an seiner Familie gelassen hatte, erkannte mit einem Schlag, dass er, sollte Linda sterben, seinen Hof nicht mehr weiterbewirtschaften könnte. Die wichtigste Arbeitskraft würde fehlen. Wenn es denn sein müsse, solle Max ins Städtchen rennen und den Arzt holen. Max war im Nu auf den Beinen, schlüpfte in seine ausgetretenen Holzschuhe und rannte den steilen Weg hinunter ins Städtchen. Seine Furcht, in der Dunkelheit durch den Wald zu gehen, war verflogen. Keuchend und ausser Atem nahm er die kurze Treppe hoch zum Haus des Doktors. Stürmisch läutete er an der Türglocke. Die Frau des alten Doktors öffnete. Eine Frau, die selten unter den Leuten zu sehen war. Anders als ihr Mann und ihr Sohn galt sie als gütig, denn sie wusste um die Leiden der Menschen. «Der Doktor muss sofort zu meiner Mutter kommen», brachte Max hervor. Was ihr den fehle, wollte sie wissen. Er wisse es nicht, seine Schwester habe gesagt, dass alles blutig sei und die Mutter keine Luft bekomme.
Er solle unter der Tür warten, sagte die Frau, bevor sie sich ins Innere des Hauses begab. Ihr Mann und der Sohn waren im Lesezimmer und unterhielten sich über Probleme in der Fabrik. Der junge Stoll sei hier, unterbrach die Doktorsfrau das Gespräch, seine Mutter liege in ihrem Blut. Ihr Sohn begann zu berichten: Die Frau sei kürzlich in seiner Sprechstunde gewesen, er frage sich, weshalb schon schwer kranke Frauen noch schwanger werden müssten. Die Stoll müsste mit ihrer Tuberkulose in eine Kur fahren. Dazu fehle dem Stoll aber das Geld und die Gemeinde sollte mit solchen Kuren nicht belastet werden.
«Darüber werden wir reden, wenn du wieder vom Besuch bei Frau Stoll zurück bist», gab ihm seine Mutter resolut zu verstehen. «Deine ethische Haltung entspricht nicht der eines Arztes und auch nicht meinem Verständnis als Arztfrau. Den kleinen Jungen, der mitten in der Nacht den langen Weg vom Hof zu uns gerannt ist und jetzt vor der Haustür wartet, lässt du in deinem Wagen mitfahren.»
Mürrisch zog Dr. Baldinger eine Jacke an, nahm seinen Arztkoffer und begab sich nach draussen. Widerwillig forderte er Max auf, sich auf den Hintersitz seines Lancias zu setzen. Nie zuvor war Max mit einem Automobil mitgefahren.
Der Doktor ahnte, was ihn erwartete. Nur ungern machte er seine Visiten auf den Höfen. Zu offensichtlich waren die Unterschiede zu seinen Lebensumständen in der Villa, in der er geboren worden und aufgewachsen war und wo Dienstboten und eine Köchin für das Wohl der Herrschaften sorgten. Die Nöte der Leute im Städtchen und die der Bauern verstand er nicht. «Wenn die fleissiger wären, die Wirtshäuser meiden und ihre Kinderschar geringer halten würden, müssten auch sie zu Wohlstand und Reichtum kommen», pflegte er zu dozieren. Das Studium zum Arzt hatte er nicht aus Berufung ergriffen. Vielmehr hatte ihn sein Vater dazu gedrängt. Aus der Tätigkeit als Arzt und Inhaber der einzigen Fabrik im Städtchen ergaben sich erhebliche Vorteile. Die Kenntnisse der intimsten Dinge seiner Patienten nützten ihm als Verwaltungsratspräsident der Firma. Der Umstand, dass er in der Fabrik nicht operativ tätig war, liess ihn im Hintergrund die Fäden ziehen und seine Leute wie Marionetten steuern. Baldinger hatte die Vorteile dieser Kombination erkannt. Wenn schon die Fäden ziehen, dann wollte er das konsequent tun. Als Gemeinderat und künftiger Gemeindevorsteher.
Der Wagen holperte knatternd über den ungepflegten Weg hinauf zu Alberts Hof. Elsi hatte die Scheinwerfer des langsam die kurvenreiche Strasse herankriechenden Autos gesehen und erwartete den Doktor vor dem Haus. Der bemühte sich, beim Aussteigen seine Schuhe vor dem Schmutz auf dem Vorplatz zu schützen. Mit seiner Tasche in der Hand folgte er Elsi ins Haus.
Max hatte auf der ganzen Fahrt mucksmäuschenstill auf dem Hintersitz des Autos gesessen. Wie der Doktor mit den Füssen auf die Pedale drückte, mit seiner rechten Hand den Schalthebel bediente und dazu noch steuerte, hatte ihn erstaunt. Von der Mechanik und der Funktionsweise eines Autos hatte er keine Ahnung. Seinem Bruder Ruedi erzählte er von der Fahrt und den Fähigkeiten des Doktors, der die komplizierte Mechanik des Fahrzeugs spielend beherrsche. Das wolle er auch einmal können, gab er seinem Bruder zu verstehen. In seiner Bewunderung hatte er die Sorgen um seine Mutter ganz vergessen.
Hinter Elsi trat der Doktor in die Stube, in der Linda auf einer Liege lag. Während sie auf ihn gewartet hatten, hatte Elsi ihre Mutter gewaschen und ihr ein frisches Nachthemd angezogen. In einem Becken lag die blutige Frühgeburt.
«Das musste ja so kommen», waren die ersten Worte, die der Arzt an Linda richtete. Er schickte Elsi aus der Stube. Mit einem Blick auf die Frühgeburt sagte er Linda, dass sie wieder Zwillinge erwartet hatte. Es sei wohl das Beste für sie, dass sie die Kinder verloren habe. Darob erschrak Linda, denn sie erinnerte sich an die Andeutungen, die er Monate zuvor in seiner Praxis gemacht hatte. Bemerkungen, die sie damals nicht verstanden hatte. Der Doktor schaute auf die blutigen Tücher, die sie beim Husten vor ihren Mund hielt.
«Sie sind schwer krank und sollten zur Kur nach Davos fahren, dort besteht eine geringe Chance, dass die Tuberkulose geheilt werden kann. Ich werde mit Ihrem Mann darüber reden», brummte der Doktor leise und mit wenig Begeisterung. Linda hatte geahnt, wie es um sie stand, die Schwere ihrer Krankheit war ihr nicht neu. Erinnerungen an ihre Kindheit stiegen in ihr auf. Sie dachte daran, wie ihre eigene Mutter jämmerlich hatte sterben müssen. Mit schwacher Stimme, doch klar und bestimmt, sagte sie zum Arzt: «Reden Sie nicht mit Albert, wir könnten eine Kur unmöglich bezahlen. Albert würde mich ohnehin niemals gehen lassen, und wer würde zu den Kindern schauen?» Der Doktor antwortete: «Wenn Sie nicht zu Kur gehen und wieder gesund werden, wird bald die Zeit kommen, wo Sie gar nicht mehr zu den Kindern schauen können. Sie werden eine Last für die Familie sein und bald sterben.»
Elsi, die er gerufen hatte, gab er ein Pulver. Dies komme aus England und heisse Stevens Cure. Davon solle sie der Mutter drei Mal täglich einen Esslöffel mit etwas Wasser verabreichen. Er könne Linda aber nur helfen, wenn sie zur Kur gehe, und er werde in einer Woche wiederkommen. So lange solle sie das Bett hüten. Er sagte es und wusste, dass Linda spätestens am nächsten Morgen wieder in der Küche stehen würde. Beim Hinausgehen fragte er Elsi nach ihrem Vater. Er wollte ihn von der Schwere der Krankheit seiner Frau unterrichten und ihm beibringen, dass er Linda schonen müsse. Aber Albert hatte sich, als er das Auto des Doktors hörte, davongeschlichen. Dem Arzt wollte er nicht begegnen. Zu gross war sein verletzter Stolz. Den Realitäten verschloss er sich. Er lag auf den Strohballen in der Scheune und wartete auf die Abfahrt des Arztes.
Читать дальше