Während der ersten Stunden der Fahrt, d. h. in einer Länge von sechzig bis achtzig Meilen, bis zum Cap Gregory, sind die Küsten niedrig und sandig. Jakob Paganel wollte keine Ansicht, keinen Punkt der Enge verlieren. Die Durchfahrt dauerte kaum sechsunddreißig Stunden, und dies bewegliche Panorama beider Ufer verlohnte wohl der Mühe, sich den Strahlen der Südsonne auszusetzen, um es zu bewundern. An der nördlichen Küste zeigte sich kein Bewohner, und an den dürren Felsen der Feuerlande schweiften nur einige kümmerliche Gestalten.
Paganel mußte daher darauf verzichten, Patagonier zu sehen, worüber er zum Ergötzen seiner Reisegefährten ärgerlich war.
»Ein Patagonien ohne Patagonier, sagte er, ist kein Patagonien mehr.
– Geduld, mein würdiger Geograph, erwiderte Glenarvan, wir werden noch Patagonier zu sehen bekommen.
– Ich bin dessen nicht gewiß.
– Aber es giebt doch welche, sagte Lady Helena.
– Ich zweifle stark daran, weil ich keine sehe.
– Kurz, der Name Patagonier, was im Spanischen »Großfüße« bedeutet, ist doch nicht eingebildeten Wesen gegeben worden.
– O! Der Name macht nichts aus, erwiderte Paganel, der, um das Gespräch zu beleben, auf seinem Satz beharrte, und übrigens, die Wahrheit zu sagen, man weiß gar nicht, wie sie heißen!
– Das wäre! rief Glenarvan. Wußten Sie das, Major?
– Nein, entgegnete Mac Nabbs, und ich gebe auch nicht ein schottisch Pfund darum, es zu wissen.
– Doch sollen Sie es erfahren, gleichgiltiger Major, fuhr Paganel fort. Während Magelhaen die Eingeborenen dieser Gegenden Patagonier benannte, hießen sie bei den Feuerländern Tiremenen, bei den Chilesen Caucalhues, bei den Auracanen Huiliches; Bougainville nannte sie Chaouha, Falkner Tehuelhets! Sie selbst gaben sich die allgemeine Benennung Inaken! Ich frage, wie soll man sich dabei auskennen, und kann man von einem Volk von so vielen Benennungen sagen, daß es existirt?
– Das ist ein rechter Grund! erwiderte Lady Helena.
– Räumen wir es ein, fuhr Glenarvan fort; aber unser Freund Paganel wird doch zugeben, denk' ich, daß, wenn auch der Name Patagonier nicht fest steht, wenigstens über ihren hohen Wuchs kein Zweifel ist!
– Etwas so Absonderliches gebe ich nicht zu, entgegnete Paganel.
– Sie sind groß, sagte Glenarvan.
– Das weiß ich nicht.
– Klein? fragte Lady Helena.
– Das kann Niemand behaupten.
– Also mittelmäßig? sagte Mac Nabbs, um zu vereinbaren.
– Ich weiß es ebensowenig.
– Das ist ein wenig stark, rief Glenarvan; die Reisenden, welche sie sahen ...
– Die Reisenden, welche sie gesehen haben, erwiderte der Geograph, stimmen keineswegs mit einander überein. Magelhaen sagte, sein Kopf reiche kaum an ihren Gürtel!
– Nun denn!
– Ja, aber Drake behauptet, die Engländer seien größer, als der größte Patagonier!
– Ja! Die Engländer; möglich, erwiderte verächtlich der Major; aber wenn von Schotten die Rede wäre.
– Cavendish versichert, sie seien groß und stark, fuhr Paganel fort. Hawkins macht sie zu Riesen. Lemaire und Schouten geben ihnen elf Fuß Höhe.
– Gut, das sind ja glaubwürdige Leute, sagte Glenarvan.
– Ja, ganz ebenso glaubwürdig, wie Wood, Narborough und Falkner, welche sie von mittlerer Größe fanden. Zwar behaupten Byron, La Giraudais, Bougainville, Wallis und Carteret, die Patagonier mäßen sechs Fuß und sechs Zoll, dagegen d'Orbigny, der am genauesten diese Gegenden kennt, legt ihnen eine Größe von durchschnittlich fünf Fuß und vier Zoll bei.
– Aber, sagte Lady Helena, was ist denn bei so viel Widersprüchen das Richtige?
– Das Richtige, Madame, erwiderte Paganel, will ich Ihnen sagen, besteht darin: die Patagonier haben kurze Beine, aber einen großen Rumpf. Darum kann man sagen, diese Leute sind sechs Fuß groß, wenn sie sitzen, aber nur fünf, wenn sie stehen.
– Bravo, lieber Gelehrter! erwiderte Glenarvan. Vortrefflich gesagt!
– Es sei denn, fuhr Paganel fort, daß sie gar nicht existiren, dann würde auch die Streitfrage aufhören. Aber schließlich, meine Freunde, will ich noch zum Trost beifügen: die Magelhaenische Straße ist prachtvoll, auch ohne Patagonier!«
In diesem Augenblick fuhr der Duncan um die Halbinsel Braunschweig zwischen zwei prachtvollen Panoramen. Siebenzig Meilen hinter dem Cap Gregory ließ er rechts das Kloster Punta Arena; man sah einen Augenblick zwischen den Bäumen die Flagge Chili's und den Kirchthurm. Dann zieht sich die Enge zwischen imponirenden Granitmassen; die Gebirge hatten ihren Fuß in ungeheurer Waldung, und ihr mit ewigem Schnee bedecktes Haupt in den Wolken geborgen; südwestlich erhob sich der Tarn 6500 Fuß hoch in die Lüfte; auf lange Dämmerung folgte Nacht; das Licht zerfloß allmälig in sanften Nuancen; der Himmel ward mit glänzenden Sternen besäet, und das Kreuz im Süden bezeichnete dem Blick der Seefahrer die Richtung des Südpols. Inmitten dieses erleuchteten Dunkels, bei dem hellen Schein dieser Gestirne, welche die Leuchtthürme civilisirter Küsten vertreten können, fuhr die Yacht kühn weiter, ohne in den leicht zugänglichen Baien des Ufers Anker zu werfen; oft streiften die Raaen an den Zweigen südländischer Buchen, welche auf die Wogen herabhingen; oft auch scheuchte der Wellenschlag ihrer Schraube an der Mündung großer Flüsse die Gänse, Enten, Schnepfen, Kriechenten und die ganze befiederte Welt der Sumpfgegend auf. Bald zeigten sich Ruinen und einige Trümmer, die in der Nacht einen großartigen Anblick darboten, traurige Neste einer aufgegebenen Colonie, deren Name ewig gegen die Fruchtbarkeit dieser Küsten und den Reichthum an Gewild in dieser Waldung protestiren wird. Der Duncan fuhr bei Port-Famine vorüber.
An diesen Ort kam im Jahre 1581 der Spanier Sarmiento mit vierhundert Flüchtlingen, um sich anzusiedeln. Er gründete daselbst die Stadt Sanct Philipp; äußerst strenge Kälte raffte einen großen Theil der Colonisten weg, der Hunger rieb auf, was die Kälte verschont hatte, und im Jahre 1587 fand der Corsar Cavendish den letzten der vierhundert Unglücklichen, der auf den Ruinen einer sechshundertjährigen Stadt nach sechsjährigem Bestehen den Hungertod starb.
An diesem verlassenen Gestade segelte nun der Duncan vorüber; bei Tagesanbruch fuhr er durch enge Pässe zwischen Buchen-, Eschen- und Birken-Wäldern, aus deren Schooße grüne Dome sich hervorhoben, mit lebhaftem Stechpalmengrün bewachsene Hügel, und steil zugespitzte Gipfel, worunter der Obelisk Buckland am höchsten emporragte; dann bei der Mündung der Bai Sanct Nikolas vorüber, die von Bougainville so benannt wurde; in der Ferne ergötzten sich Heerden von Robben und ungeheuern Wallfischen, wie man aus ihren vier Meilen weit sichtbaren Wasserstrahlen abnehmen konnte. Endlich umfuhr er das Cap Forward, welches noch vom letzten Wintereis bedeckt war. Auf der andern Seite der Enge erhob sich der sechstausend Fuß hohe Sarmiento, ein ungeheurer Haufen vereinzelter Felsen zwischen Wolkenstreifen, so daß der Himmel einem Archipel in der Luft gleich aussah.
Am Cap Forward endigt eigentlich das Festland Amerika's, denn Cap Horn ist nur ein in's Meer verlaufender Felsen unter'm sechsundfünfzigsten Breitegrade.
Ueber diesen Punkt hinaus zieht sich die Enge zusammen zwischen der Halbinsel Braunschweig und dem Land der Trostlosigkeit, einer langen Insel zwischen unzähligen Inselchen gleich einem ungeheuern Wallfisch, der mitten im Strandgestein scheiterte. Wie verschieden ist dieses ausgezackte Ende Amerika's von den freien und klaren Spitzen Afrika's, Australiens oder Ostindiens! Welche unbekannte Fluth hat dies ungeheure Vorgebirge so zersplittert zwischen die beiden Oceane geschleudert?
An diese fruchtbaren Gestade schließt sich eine Reihe öder Küstenstrecken von wildem Aussehen, die in tausend Windungen labyrinthartig sich ausschweifen. Der Duncan folgte unbehindert und ohne Anstoß den launenhaften Krümmungen, indem er seine Rauchwirbel mit dem von Felsen durchbrochenen Nebel mischte. Er kam, ohne langsamer zu fahren, vor einigen Factoreien vorüber, welche die Spanier an diesen verlassenen Gestaden errichtet haben. Am Cap Tamar wird die Straße wieder weiter, die Yacht konnte Raum gewinnen, um die steile Küste der Narborough-Inseln zu umfahren, und hielt sich in der Nähe des südlichen Gestades. Endlich, sechsunddreißig Stunden nach der Einfahrt in die Straße, sah sie den Felsen des Cap Pilares an der äußersten Spitze des Landes der Trostlosigkeit emporragen. Ein unermeßliches offenes Meer breitete sich funkelnd vor ihm aus, und Jakob Paganel, der es mit einer begeisterten Handbewegung begrüßte, empfand eine Gemütsbewegung, wie einst Fernan Magelhaen selbst, als die Seeluft des Stillen Oceans den Trinidad, auf welchem Magelhaen sich befand, entgegenwehte.
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