So hören wir beständig die Stimme des Verfassers, der sich dem Leser immer wieder in Erinnerung ruft. Auch das ist ungewöhnlich: Der Verfasser bleibt sonst meist im Hintergrund, hat die monotone Stimme eines neutralen Erzählers. Da gibt es kein Ich, das persönlich beteiligt wäre und sein Innerstes preisgäbe. Bo l-Fazl ist anders: Sein Ich ist präsent, er steckt im Geschehen und läßt uns an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben. Kein Wunder, denn als Sekretär am Hof und Vertrauter des Kanzleileiters lebte er im Zentrum der Ereignisse und konnte vieles selbst beobachten, was er später in seinem Geschichtswerk niederlegte. Er ist vielleicht der subjektivste Berichterstatter, der je mit allen Mitteln versucht hat, objektiv zu sein.
Sein Werk ist voll vom pulsierenden Leben der Vergangenheit, voller Geschichte im besten Sinne, und zugleich ein wortgewaltiges Webstück persischer Literatur, ein sprachliches und kompositorisches Kunstwerk. Es ist einzig in seiner Art und einzigartig geblieben.
Schon deshalb hat es in der Forschung Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und wir werden uns den Ansichten und Einsichten der Forscherinnen und Forscher immer wieder zuwenden, um Bo l-Fazl und sein Werk kennen und verstehen zu lernen. Dabei werden Sie erfahren, wozu Geschichtsschreibung überhaupt gut ist und was man von ihr erwarten kann - und was nicht. Natürlich möchte ich auch Bo l-Fazls Werk immer wieder selbst sprechenlassen. Dazu habe ich Passagen wie Blüten für Sie herausgepflückt und im Text arrangiert.
In den folgenden Kapiteln treten wir also unsere Reise ins 11. Jahrhundert an: Wir wollen Bo l-Fazls Welt kennenlernen und erfahren, wie er den Ghaznaviden Mas'ûd und sein epochales Versagen gesehen hat. Wir wollen Bo l-Fazls Persönlichkeit nachspüren und seiner Kunstfertigkeit. Wie erschafft er eine schlüssige Erzählung über die Ereignisse? Wohin lenkt er unsere Gedanken? Können wir ihm einfach alles glauben, oder müssen wir vorsichtig sein? Und wer war dieser Abo l-Fazl-e Beyhaqî eigentlich? Was wollte er uns mit diesem einzigartigen Werk sagen?
Wer war Abo l-Fazl-e Beyhaqî? – Die Daten
Wer Abo l-Fazl-e Beyhaqî war, wie sein Leben verlief und woher wir das wissen
Tasten wir uns zunächst auf dem üblichen Weg an unseren Geschichtsschreiber heran: über biographische Daten. Ein paar Daten beantworten zwar noch nicht die Eingangsfrage dieses Kapitels. Bo l-Fazls Persönlichkeit kann man damit nicht nachzeichnen, und das heißt, daß die bekannten Daten noch keine Vorstellung von dem Menschen Bo l-Fazl schaffen. Trotzdem brauchen wir sie als Ausgangspunkt auf unserer Suche nach ihm. Diese Suche wird uns bis zum Ende dieses Buches beschäftigen, aber wir müssen irgendwo anfangen. Warum also nicht bei den verfügbaren Daten?
In seinem Geschichtswerk erzählt Bo l-Fazl, daß er sich in seiner Jugend in Nîschâpûr aufgehalten hat. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn das war damals die wichtigste Stadt in Chorâsân, und zum Studieren ging man dorthin. An zwei Stellen berichtet Bo l-Fazl, daß er mit fünfzehn und sechzehn Jahren Ereignisse in Nîschâpûr selbst beobachtet habe. Weil er dort auch mitteilt, in welchen Jahren sich diese Ereignisse abgespielt haben, können wir sein Geburtsjahr ausrechnen: Bo l-Fazl war demnach in den Jahren 1009-1010 unserer Zeitrechnung fünfzehn Jahre alt. Er muß also in den Jahren 995-996 unserer Zeitrechnung geboren worden sein.
Das genaue Jahr kann man nur ausrechnen, wenn ein exaktes Datum oder zumindest der Monat angegeben ist. Das liegt daran, daß die islamische Zeitrechnung, die Bo l-Fazl und die übrigen Geschichtsschreiber verwenden, mit Mondjahren rechnet. Weil Mondjahre kürzer sind als unsere Sonnenjahre, stimmen sie nicht genau überein und »wandern« im Verhältnis zu unserem Kalender. Deshalb liegt das Mondjahr 385 nach islamischer Zeitrechnung zum Teil in unserem Jahr 995, zum Teil im Jahr 996.
Jetzt wissen wir, wann Bo l-Fazl geboren wurde, aber noch nicht wo. Das erzählt er uns auch nicht selbst. Dafür gibt es aber eine andere wichtige Quelle, eine Lokalgeschichte von Beyhaq mit dem naheliegenden Titel »Geschichte Beyhaqs« (Târîch-e Beyhaq). Dort lesen wir, daß Bo l-Fazl im Dorf Hâresâbâd im Gebiet Beyhaq geboren wurde und daß er im Jahr 1077 gestorben ist. Daher kommt also Bo l-Fazls Beiname »Beyhaqî«, denn sein voller Name lautete: Abo l-Fazl Mohammad b. Hoseyn-e Beyhaqî (Abu l-Fadl Muhammad b. Husain al-Baihaqî). Und der Beiname besagt, daß sein Träger oder dessen Familie aus der Stadt Beyhaq oder ihrer Umgebung stammt. »Beyhaqî« heißt also einfach »der aus Beyhaq« - so wie »Baghdâdî « bedeutet »der aus Bagdad«.
Auch der Verfasser der Lokalgeschichte trug diesen Beinamen. Sein voller Name lautet Zahîr ed-Dîn 'Alî b. Zeyd-e Beyhaqî (Zahîr ad-Dîn 'Alî b. Zaid al-Baihaqî). Auch er stammte also aus Beyhaq und Umgebung. Beyhaq selbst war keine sehr große Stadt, lag aber an einer wichtigen Handelsstraße. Sie führte am nördlichen Rand der großen im Zentrum des iranischen Hochplateaus gelegenen Salzwüste Dascht-e Kavîr entlang und verband Rey in Westiran (heute ein Vorort von Teheran) mit Chorâsân im Osten und der bedeutenden Stadt Nîschâpûr westlich des heutigen Maschhad. Doch Beyhaq bezeichnet nicht nur eine Stadt, die heute Sabzavâr heißt und im Nordosten Irans gut 200 Kilometer westlich von Maschhad liegt, sondern auch ein größeres ländliches Gebiet mit mehreren hundert Dörfern.
Daher stammten natürlich eine ganze Reihe bekannter Autoren aus diesem Gebiet. Mehr noch: Beyhaq ist gerade für die vielen Gelehrten bekannt, die von dort kamen. Deshalb gibt es eine ganze Menge bekannter Beyhaqîs. In der Lokalgeschichte Beyhaqs hat der Verfasser die Biographien der wichtigen Gelehrten aus dieser Region aufgezeichnet.
Die große Anzahl an bekannten »Beyhaqîs« hat natürlich ihre Tücken für spätere Geschichtsforscher. So verwechseln sogar gestandene Fachleute manchmal die beiden »Geschichtsschreiber-Beyhaqîs«: Bo l-Fazl, der ja eigentlich Abo l-Fazl-e Beyhaqî heißt, und Zahîr ed-Dîn 'Alî b. Zeyd-e Beyhaqî, den Verfasser unserer Quelle, der »Geschichte Beyhaqs«.
Für solche Verwechslungen gibt es mehrere Gründe: Beide »Beyhaqîs« haben je ein Geschichtswerk auf persisch verfaßt. Das eine Geschichtswerk, die »Geschichte des Mas'ûd«, ist auch als »Geschichte des Beyhaqî« bekannt. Die andere heißt »Geschichte Beyhaqs«. Auf persisch unterscheidet sich das nur durch einen einzigen Buchstaben: »Geschichte Beyhaqs« heißt nämlich Târîch-e Beyhaq und »Geschichte des Beyhaqî« heißt Târîch-e Beyhaqî. Sehen Sie den winzigen Unterschied, das î am Ende? Um die Sache noch verwirrender zu machen, lebte der Verfasser der Lokalgeschichte Beyhaqs nur knapp hundert Jahre später als Bo l-Fazl: von ungefähr 1097 bis 1169. Zum Glück ist er als Verfasser dieser Lokalgeschichte unter dem Namen Ebn Fondoq (Ibn Funduq) bekannt, und so werde ich ihn ab jetzt auch nennen.
Hier noch einmal ein kurzer Überblick über die beiden »Geschichtsschreiber-Beyhaqîs«:
Bo l-Fazl |
Abo l-Fazl Mohammad b. Hoseyn-e Beyhaqî |
Verfasser der »Geschichte des Mas'ûd« (Târîch-e Mas'ûdî), auch bekannt als »Geschichte des Beyhaqî« (Târîch-e Beyhaqî) |
Ebn Fondoq |
Zahîr ed-Dîn 'Alî b. Zeyd-e Beyhaqî |
Verfasser der »Geschichte Beyhaqs« (Târîch-e Beyhaq) |
Doch kommen wir zurück auf Bo l-Fazls Lebensdaten! Was erzählen er selbst und Ebn Fondoq uns noch über ihn?
Aus Bo l-Fazls Geschichtswerk wissen wir, daß er viele Jahre als Sekretär in der Reichskanzlei, dem Dîvân-e resâlat, gearbeitet hat - also im Zentrum des Geschehens. Oft erzählt er von diplomatischen Schreiben, die er zu bearbeiten hatte und die sein »Meister« (ostâd) Bû Nasr-e Moschkân (Abû Nasr b. Muschkân), der Leiter der Kanzlei, aufsetzte. In den Abschnitten, in denen er vom Tod seines Meisters berichtet, erwähnt Bo l-Fazl, daß er neunzehn Jahre lang bei ihm gewesen sei. Bû Nasr-e Moschkân ist im Jahr 431 islamischer Zeitrechnung (1039) gestorben. Bo l-Fazl hat demnach im Jahr 412 seine Tätigkeit in der Reichskanzlei aufgenommen, das heißt in den Jahren 1021-1022 unserer Zeit. Wahrscheinlich hat er aber schon vorher in irgendeiner Funktion in der Verwaltung gearbeitet, denn 1021 war er bereits fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt, zu alt also für einen völligen Neuling.
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