Der Mistral gehört zur Provence wie die Olivenbäume und die Rebstöcke. Alle sind vom Meereswind abhängig und benötigen diesen entweder zur Stärkung oder Bestäubung. In den Sommermonaten entfacht er Jahr für Jahr kleine Waldbrände. Dies verhilft immerhin einigen Feuerwehrmännern zu einem schattigen und meist ruhigen Posten in einem der zahlreichen Wäldern der Alpilles, in welchen sie ihren Bereitschaftsdienst in den Löschfahrzeugen absitzen.
Fougasse setzt sich an den Schreibtisch und denkt über Claudine Virets Situation nach. Er kann keinen Zusammenhang zwischen ihr und Gomez oder zwischen Antonio und Gomez herstellen. Es muss hier noch mehr zu entdecken geben. Plumetatz kommt mit einer Liste an offenen Anfragen, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt haben. Darunter ist auch eine des Tierarztes von Maussane , Monsieur Pierre Chevalier. Er bittet um Rückruf oder, falls möglich, gar um einen kurzen Besuch in der Praxis.
Direkt nach dem ziemlich verspäteten Mittagessen – sofern sich Pastaresten vom Vorabend und Reste des Baguettes vom Frühstück so nennen lassen – macht sich Fougasse auf den Weg zu Chevalier.
«Wissen Sie, wir haben den Eindruck, dass in den letzten Monaten sehr viele Kleinhunde zwischen Maussane und Saint Rémy auf der Strasse sterben. Durchschnittlich finden wir zwei bis drei tote Tiere pro Woche auf der schnell befahrenen Strasse. Sie werden uns mehrheitlich von den Gemeindebetrieben gemeldet. Selbst meiner Frau ist es bereits aufgefallen. Sie arbeitet in Saint Rémy und bringt dreimal pro Woche unsere Zwillinge dort in die Kindertagesstätte. Seit einiger Zeit fragen die beiden Kinder jedes Mal, wann denn nun das tote Tier komme», erzählt Chevalier.
«Davon habe ich noch gar nichts mitbekommen», entgegnet Fougasse. «Entspricht dies denn nicht dem üblichen Schnitt?»
«Nein, das ist überdurchschnittlich viel. Zumal sich unsere Kinder bereits einen Spass daraus machen. Viel komischer ist jedoch die Tatsache, dass die Tiere oft aus ganz unterschiedlichen Orten stammen. Wir haben bereits Hunde aus Avignon und Aix - en - Provence gefunden, wie wir mittels den teilweise eingesetzten Tier-Chip in den toten Hunden nachweisen konnten. Ein normaler Kleinhund würde nie von sich aus solche Strecken zurücklegen. Die meisten Halter der toten Tiere bestätigten mir zudem, dass ihre Tiere zuvor nie von zu Hause weggelaufen sind.»
«Und was tun Sie mit all den toten Tieren?»
«Wir geben sie in die städtische Tiersammelstelle in Arles . Dort werden sie verbrannt und als Zusatzstoffe in diversen Industrieprodukten weiterverarbeitet. Ich habe aber die Adressen der Tiere, welche einen Tier-Chip an sich trugen, feinsäuberlich notiert. Möchten Sie diese Liste? Es sind nun schon zirka dreissig Hunde.»
«Und was soll ich damit?»
«Ich habe gehofft, Sie würden versuchen, einen Zusammenhang zwischen den toten Tieren herzustellen.»
«Ich habe ja nichts anderes zu tun. Ohne Anzeige kann ich sowieso nur schwer etwas unternehmen. Zumal die Tiere nicht mehr vorhanden sind. Sie können mir die Liste mitgeben. Melden Sie sich doch am besten wieder, wenn Sie das nächste Mal einen toten Hund haben», schlägt Fougasse vor, in der Hoffnung, die Tierarztpraxis baldig verlassen zu können.
«Ja, ich werde mich sofort bei Ihnen melden. Es ist mir bewusst, dass dies eine uninteressante Arbeit für Sie sein muss. Mir tun jedoch die armen Tiere leid. Ich hoffe, wir finden die Ursache. Besten Dank, Monsieur l’Inspecteur. »
Fougasse kommt die Sache irgendwie suspekt vor. Aber es ist nicht sein Ding, diesen Viechern nachzuforschen. Darum soll sich Plumetatz kümmern. Ihm geht Claudine Viret einfach nicht aus dem Kopf. Was die mit Gomez zu tun haben mochte? Und ihr Onkel, der unfähige Pizzaiolo? Hat der womöglich auch etwas damit zu tun? Fougasse beschliesst, heute bei Antonio, nahe der Arena in Arles , eine Pizza essen zu gehen. Er will sich ein Bild der dortigen Lage und des Pizzawagens verschaffen. Da es schon fünf Uhr nachmittags ist, macht er sich gleich auf den Weg nach Arles , wo er im Parking des Arènes parkt und sich zum Feierabend im gleichnamigen Hotel auf der Terrasse ein Bier gönnt. Er braucht eigentlich nur zu warten, bis der verbeulte Peugeot Lieferwagen von Antonio aufkreuzt. Er liess sich zuvor von Girault sagen, wo Antonio jeweils stationiert ist, um seine Pizzen in Arles zu verkaufen. Girault wohnt in Arles und hat den Pizzawagen schon einige Male bei der Arena gesehen.
Der Platz um die Arena ist voller Touristen, die sich für das historische Gebäude interessieren. Die Arena ist ein Amphitheater aus dem Zeitalter um Christus und eine der wenigen Sehenswürdigkeiten der Kleinstadt Arles . An Feiertagen werden hier Stierkämpfe ausgetragen.
Nebst der kleinen Altstadt hat Arles nicht viel zu bieten. Ein heruntergekommenes Vorortviertel reiht sich ans andere. Fougasse mag Arles nicht besonders. Es hat nichts mehr mit der Idylle der Provence zu tun. Er bestellt gerade das zweite Bier, als der Pizzawagen in Richtung Standplatz fährt.
«Piep, piep, piep», tönt es, als der Rückwärtsgang eingelegt wird, um den fahrenden Pizzaofen in die korrekte Position zu bringen. Beendet wird das Parkmanöver mit einem dumpfen Blechgeräusch. Das Amphitheater hat sich wohl nichts aus dem Rückfahrwarnton gemacht und dem Fahrer anderweitig ein Zeichen zum Anhalten gegeben. Nach einem kurzen Vorwärtshupf steht der Wagen still. Die Türe öffnet sich. Eine kleine rundliche Frau steigt aus. Sie trägt einfache Arbeitskleider und ein Kopftuch, welches die wenigen Haare zusammenhält. Sie wischt sich zuerst den Schweiss von der Stirn und schaut dann vorsichtig um sich, um herauszufinden, ob jemand ihr Parkmanöver beobachtet hat.
Viele Leute amüsieren sich über das unbeholfene Vorgehen der Frau. Sie öffnet die Klappjalousien und verlegt das Stromkabel zu einem Verteilerkasten. Danach steigt sie im Kochbereich des Fahrzeuges ein, nachdem sie den Plastikabfalleimer nach draussen spediert hat. Die ersten Kunden lassen nicht lange auf sich warten und bestellen direkt am Wagen oder per Telefon. Alles scheint korrekt abzulaufen. Aber wo ist Antonio? Wer ist diese Frau? Als Fougasse sicher ist, dass sie genug Aufträge hat, um sie in ein möglichst langes Gespräch zu verwickeln, stellt er sich an.
« Bonsoir Madame », grüsste Fougasse freundlich und bekommt ein knappes Bonsoir zurück. Da muss er wohl all seinen Charme einsetzen, um etwas herauszubekommen.
«Was möchten Sie , Monsieur?»
«Eine Pizza, bitte.»
«Ja, das wollen die meisten. Und welche darf es sein?»
«Haben Sie eine Pizza Reo?»
Die Frau zeigte mit dem Finger auf die Karte und gibt Fougasse klar zu verstehen, dass sie Pizzen backt, aber nicht beschreibt. Er tut so, als würde er die Karte studieren, dabei ist ihm längst klar, dass er eine Pizza Prosciutto nehmen wird. Der Wagen scheint auf den ersten Blick ordentlich geführt zu sein. Alles ist an seinem Platz, es sieht sauber und aufgeräumt aus.
«Eine Prosciutto bitte.»
«Gerne, dauert etwa eine Stunde.»
«Sie haben aber viel zu tun. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?»
«Mir egal, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben. Der Platz hier ist für alle da.»
«Verkaufen Sie auch Getränke?»
Der Finger der Frau zeigt auf die ausgestellten Getränkedosen, welche scheinbar die Getränkekarte darstellen.
«Ich hätte gerne ein Carlsberg .»
Die Frau bückt sich und öffnet eines der zahlreichen Kühlfächer, in dem die Getränke untergebracht sind. Fougasse kann alles schön beobachten. Ganz unten im Kühlfach erspäht er eine seltsame Pizzaschachtel, aus der etwas Seltsames herausragt. Es sieht aus wie ein behaarter Schlauch oder eine spanische Salami. Auf alle Fälle etwas, das dort nicht hingehört.
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