Claude ist erleichtert, als die Gendarmerie eintrifft und ihn am Tatort ablöst. Er stellt sich vor, jemand hätte ihn hier gesehen, während er mit dem Schädel und der Heckenschere herumhantierte! Das wäre ihm irgendwie peinlich gewesen. Den solche Geschichten gehen schneller durchs Dorf, als der Mistral blasen kann.
Herr Gomez war ein allseits geschätzter Herr Mitte sechzig. Er lebte permanent in der Feriensiedlung – wie einige andere auch. Die permanenten Anwohner schätzen die Vorzüge des All-Inclusive-Landschaftsdienstes sowie die ruhige und sehr private Lebensweise. Auch der Pool inmitten der Siedlung erfreut sich grosser Beliebtheit, zumal das öffentliche Schwimmbad ein langer Fussmarsch entfernt ist. Die meisten Häuser und Appartements werden nur wenige Wochen pro Jahr von Touristen bewohnt. So lässt es sich für die permanenten Bewohner den Rest des Jahres ungestört leben.
Jean Fougasse runzelt die Stirn und greift sich an sein Kinn. So eine Schweinerei hat er in seiner ganzen Laufbahn als Hauptwachtmeister noch nie gesehen. Schon gar nicht in seinem Heimatdorf, wo er seit fast dreissig Jahren die Gendarmerie National im Rang eines Commandant als Kriminalinspektor leitet.
Fougasse gehört quasi zum Dorfinventar von Maussane . Er kennt beinahe alle Bewohner beim Vornamen und ist selbst allseits bekannt und beliebt. Der Mittfünfziger lebt seit seiner Geburt in Maussane und würde es nie im Leben auch nur für einen müden Euro verlassen. Die Bewohner schätzen seinen unermüdlichen Einsatz im Dorf und dass sie daher in Ruhe und Frieden miteinander leben können. Dazu trägt Fougasse stets pflichtbewusst sein Bestes bei. Alle wissen, wenn Fougasse aufkreuzt, kann man es gesorgt geben, ausser man hat etwas verbrochen. Der kleine, vom guten Wein und Olivenöl rundlich geformte Mann, hebt seine Baskenmütze und streicht seine wenigen, etwas längeren Haare zurecht. Gerade so, dass diese schön unter der Mütze verschwinden, als er diese wieder aufsetzt. Fougasse gibt es nur zusammen mit der Mütze. Sein Haar ist so schütter, dass er es lieber unter der Kopfbedeckung versteckt. Egal, wie heiss es ist, die Mütze trägt er jeden Tag von morgens bis abends auf dem Kopf. Er hat eine für Werktage und eine zweite fürs Wochenende. Die Dritte trägt er nur an speziellen Anlässen – und dies äusserst konsequent.
Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Der arme Gomez! Wie es wohl dazu kommen konnte, fragt sich Fougasse. Schnell ist klar, hier müssen Profis her, welche den Tatort untersuchen, dokumentieren und hoffentlich den Rest der Leiche finden. Noch schneller als die Profis aus Arles treffen natürlich einige Bewohner der Siedlung am Tatort ein. Besonders ein Schweizer Rentnerpaar reckt mit den Köpfen weit über das rotweisse Absperrband der Gendarmerie.
«Hans, ich habe dir ja schon lange gesagt, im Haus 135 von Herrn Gomez ist etwas nicht in Ordnung. Die vielen Überwachungskameras waren mir schon immer unheimlich», flüstert Ruth ihrem Mann ins Ohr.
Fougasse, mit jahrelanger Erfahrung im Ermittlungsgeschäft, erkennt auf einen Blick, welche Zaungäste etwas zu erzählen haben. So fragt er die ältere Dame mit kurzem, weiss glänzendem Haar: « Inspecteur Fougasse, dürfte ich Ihren Namen erfahren, Mademoiselle ?» «Moser, Ruth Moser. Das ist mein Mann Hans Moser. Wir sind hier in den Ferien, wie immer.»
Fougasse nimmt nach einer kurzen Unterhaltung die Kontaktdaten des Rentnerpaares auf und sie vereinbaren einen Termin auf der Gendarmerie.
Die Spurensicherung aus Arles nimmt die Siedlung und insbesondere die Hecke um Haus 89, wo Claude den Schädel gefunden hat, genau unter die Lupe. Auch nach längerer Suche findet sich keine Spur oder gar der Rest der Gomez-Leiche. So steht im vorläufigen Obduktionsbericht als Todesursache „Tot durch Enthauptung“.
Im Haus von Gomez, der Nummer 135, ist scheinbar eingebrochen worden. Es sind zwar keine Gewaltspuren am Gebäude sichtbar, doch in der Wohnung herrscht ein grosses Durcheinander, das auf einen Einbruch deutet. Es lässt sich auch niemand finden, der das Fehlen von Diebesgut bezeugen kann. Gomez hatte keine lebenden Verwandten mehr und wohnte sehr zurückgezogen. Er hatte selten bis nie Besuch zu Hause und traf sich mit seinen Freunden, wie es die meisten tun, im Dorfkern. Entweder auf dem Pétanque Platz oder im Café du Centre . Damit geht der Fall wieder zurück zu Inspecteur Fougasse in Maussane .
Obschon Monsieur Gomez bereits seit Anfang April verschwunden war, hat niemand eine Vermisstenanzeige bei Fougasse aufgegeben. Viele ältere Herren haben sich jedoch Sorgen um Gomez gemacht. War er doch zu Lebzeiten regelmässig im Boulodrom in der Nähe des Marktplatzes anzutreffen, um dort mit seinen Freunden unter den Platanen eine Runde Pétanque zu spielen. Auch Fougasse ist ab und zu dort anzutreffen um sich in der provenzalischen Bocciadisziplin mit anderen, meist älteren Herrn zu messen, welche die leichteren Kugeln und kürzeren Spieldistanzen des Pétanque bevorzugen. Er schätzt das ruhige und konzentrierte Spiel mit den Metallkugeln und nützt jeweils die Gelegenheit, von den Mitspielern auf den neuesten Stand des Dorflebens gebracht zu werden.
Der heutige Mittwoch ist ein schwüler Tag. Auch der Schatten der Pergola im Haus 18 der Siedlung bietet keinen ausreichenden Schutz vor der Hitze. Trotz allem sitzt Hans Moser entspannt an seinem Schattenplatz im Liegestuhl. Die Schweissperlen kullern ihm nur so von der Stirn über die Wange den Hals hinunter.
Ruth ist mit dem Abwasch beschäftigt: «Heute Nachmittag müssen wir zu Herrn Fougasse, Hans. Wolltest du nicht noch duschen? Sonst sind wir wieder knapp dran. Also, mach vorwärts!»
«Ja, ich mache ja schon», murmelt Hans vor sich hin. Dass meine Frau auch immer die Nase in fremde Angelegenheiten stecken muss. Das haben wir nun davon, mitten drin anstatt nur dabei.
Um fünf vor zwei klopfen die beiden an die Scheibe des Empfangsschalters der Gendarmerie Maussane-les-Alpilles . Hans wischt sich nochmals die Stirn, da er die Steigung vom Dorf bis zum ausserhalb gelegenen Revier der Gendarmerie trotz Elektrobike nicht mehr ohne Weiteres schafft.
« Bonjour . Komme gleich!», ruft Fougasse den beiden aus der hinteren linken Ecke des Empfangsbüros zu. Sehen kann man Fougasse vom Schalter aus nicht. Mehrere Aktenberge und chaotisch herumliegende Gegenstände versperren die Sicht. Ist ja klar. Die Franzosen sind Chaoten. So bekommt er den Fall nie gelöst, und ich bin vergebens hier hochgeradelt, denkt Hans.
«Ich bin schon etwas nervös, Hans. Hätten wir einen Anwalt mitnehmen sollen?», fragt Ruth.
«Ach was, das ist doch wie früher. Räuber und Gendarm, weisst du noch? Da haben wir schon ganz andere Sachen erlebt, Ruth.» Hans versucht seine Ruth, welche er bereits seit Kindeszeit kennt, zu beruhigen.
Fougasse bittet die beiden in ein karg eingerichtetes Nebenzimmer. In der Mitte steht ein Tisch mit vier Stühlen. An den Wänden hängen willkürlich aufgehängte Diplome und Fotografien älterer Herren, eingerahmt und staubbedeckt. In der Ecke neben dem Fenster steht ein weiterer kleiner Tisch, darauf eine alte, mechanische Schreibmaschine.
«Eine Patria ! Das so was noch existiert und gebraucht wird», ruft Hans Moser erstaunt.
«Genau, Monsieur . Und sie funktioniert noch tadellos», sagt Mademoiselle Plumetatz, Fougasses Sekretärin.
Sie betritt den Raum nach Fougasse und den beiden Mosers. Hans hat sein Leben lang in der Schreibmaschinenfabrik in Fraumünster gearbeitet und kann die Geräte im Dunkeln reparieren. Als er noch besser hörte, konnte er sogar den jeweiligen Schlagbalken am Geräusch erkennen. Mademoiselle Plumetatz setzt sich an den kleinen Tisch, spannt ein formales Papier in die Patria und tippt drauf los. Lange ist es her, seit Moser diese Geräusche täglich zu Ohren bekam.
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