Jede Form von Beziehung bedeutet teilen, sich teilen, mitteilen, das Ich mit jemand anderem, einem Du teilen.
Das „Ich“ besteht aus Gedanken, Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten, Schwächen, Freuden, Wünschen, Sehnsüchten, Befürchtungen, Erkenntnissen, Plänen, Vorhaben und so weiter, eben aus allem, was uns beschäftigt und bewegt. Durchs Teilen lassen wir einander Anteil nehmen an uns und unserem Leben, denn, obwohl wir vielleicht sogar eine Wohnung teilen, Tisch, Bett und Schrank, lebt jeder sein eigenes Leben.
Dadurch, dass wir uns mit anderen teilen, werden wir selbst „ganzer“ im Sinne von bewusster. Nein, nicht, weil der andere unsere Mängel ausgleicht, sondern, weil wir durchs Mitteilen Zugang zu unserem unsichtbaren Inneren erhalten. Eine Beziehung ist somit gewissermaßen der „Schleichweg zum Ich“, zu sich selbst. Sie macht Selbsterkenntnis möglich, wir werden uns selbst bewusster.
Während wir mit jemandem reden, können wir uns hören, was wir sagen ist ebenso für uns bestimmt wie für den anderen und das ist gut so, denn so richtig begreifen können wir schließlich nur, was unsere fünf Sinne wahrnehmen. Wir halten das für wahr, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und berühren können.
Natürlich verfügen wir über Sinne, die Feinstoffliches wahrnehmen. Diese Form der Wahrnehmung braucht ebenfalls Übung. Sie geht im Alltag leicht unter, wenn wir uns nicht bewusst darauf konzentrieren. Wir müssen in uns hineinhorchen, in die „Stille“ gehen, auf das achten, was wir fühlen. Doch meist sind wir so beschäftigt mit den Anforderungen des täglichen Lebens und abgelenkt von äußeren Eindrücken, dass uns das Unsichtbare, rein Fühlbare, entgeht.
Hier kommen wieder unsere Beziehungen ins Spiel. Wir sind füreinander Projektionsflächen für Unbewusstes und Unsichtbares. Je näher wir jemandem kommen, umso tiefer sehen wir in uns selbst hinein.
Mit jemandem in Beziehung zu treten, bedeutet also, dass wir uns selbst besser kennen lernen, unsere Innenwelt, die uns manchmal wie eine fremde Welt auf einem anderen Planet anmutet und dennoch seltsam vertraut ist. Außerdem lernen wir eine völlig andere Welt kennen, nämlich die unseres Gegenübers, wo es ebenfalls immer wieder Neues zu entdecken gibt. Zwischenmenschliche Bezie-hungen sorgen wie gesagt für Feedback, für Korrektur des eigenen Verhaltens.
Und natürlich für Wärme und Geborgenheit, Verständnis, Zuneigung und Liebe, hoffentlich auch für Spiel und Spaß, den Austausch von Interessen und Information, für Inspiration und vieles mehr. Wenn sie also definitiv Bereicherung und Entwicklungshilfe bedeuten, warum tun wir uns so schwer damit? Weil es Grundmuster gibt, die uns mehr oder weniger unbewusst beeinflussen, wie zum Beispiel die:
Grundmuster oder Urinstinkte des Menschen
1. Das Tier in mir
2. Wer angreift, will sich verteidigen
3. Die ewige Sehnsucht nach Verschmelzung
4. Wir alle wollen Opfer sein,
5. Auf der Jagd nach dem Sündenbock
6. Die unwiderstehliche Lust auf Selbstzweifel
7. Projektionen
Doch, auch der Mensch ist ein Tier. Er besitzt jedenfalls tierische Anteile, seine Triebe und Instinkte. Das Tier in uns klammert sich mit Krallen und Zähnen ans Leben. Es ist der Teil, der den Körper vor Schaden bewahren und das Leben schützen und erhalten soll. Dieser Teil reagiert, wenn wir auf Fremde treffen. Wir können ja nicht von vornherein wissen, ob der andere uns etwas antun will oder nicht. Also müssen wir auf der Hut sein, beziehungsweise er, unser Überlebensinstinkt. Er ist fast immer wach, wenn wir unter Leute gehen, aufmerksam und misstrauisch, bereit, entweder die Flucht zu ergreifen oder anzugreifen, außer wenn wir schlafen.
Doch manchmal sogar dann. Er mischt sich überall ein, ob es uns passt oder nicht. Und er hat extrem viele Vorurteile, aus Vorsicht. Da er sich auf einer Ebene befindet, die sich der Kontrolle durch den Verstand entzieht, nämlich im Unterbewusstsein, können wir nichts dagegen machen. Es tut uns, nicht wir tun. Außer wir holen ihn aus dem Unterbewusstsein heraus. Dann ist er zwar nicht weg, doch er beeinflusst uns weniger, und wir können selber entscheiden, ob wir ihm nachgeben oder nicht.
Die erste Begegnung mit Fremden bedeutet für das Tier in uns grundsätzlich Stress, mal mehr, mal weniger, je nach Situation und je nachdem, wie ängstlich es ist, was es sich vorstellt und welche Vorurteile es hat. Wir können beim besten Willen nicht einfach auf jemanden zugehen und uns einlassen, außer wir haben es schon oft gemacht und mit überwiegend positiven Ergebnissen. Hat es sich daran gewöhnt, entwickelt es Vertrauen.
Hat der jeweilige „Tierbesitzer“ eine positive Lebenseinstellung, wirkt sich das beruhigend auf seine Instinkte aus, sie sind weniger misstrauisch anderen gegenüber. Der gleiche Trieb, der Selbsterhaltungstrieb, steckt dahinter, wenn wir Mühe haben mit Neuem im Leben. Wissen wir nicht, was uns erwartet, ist er alarmiert. Also versuchen wir, uns davon ein Bild zu machen, um besser damit klarzukommen, ja, um uns überhaupt ans Neue wagen zu können. Was vorstellbar ist, ist weniger fremd. Bedrohlich wirken auch Leute mit einem Verhalten, das aus der Reihe tanzt, solche aus anderen Kulturen, mit einer anderen Hautfarbe oder fremden Religion, die eine Sprache sprechen, die wir nicht verstehen. Lernen wir Fremde näher kennen und erhalten Einblick in ihr Leben und Denken, verschwinden in der Regel auch Angst und Ablehnung.
Es kann vorkommen, dass sich jemand verändert, den wir schon lange kennen oder zumindest zu kennen glauben. Obwohl die Veränderung durchaus positiv sein mag, wirkt er nun fremd und unvertraut. Er scheint nicht mehr der zu sein, der er vorher war. Die Menschen um ihn herum reagieren mit Ablehnung und versuchen, ihn wieder zum vorherigen, vertrauten Verhalten zu bringen. Das kann alles beinhalten, von Kritik bis ins Gewissen reden, Verbalattacken oder sogar Trennung.
Das kommt für jemanden, der wahrscheinlich gerade eine anstrengende Entwicklungs- und Befreiungsphase hinter sich hat, die ihn veränderte, einer sehr harten Überprüfung gleich. Reagieren vertraute Menschen mit Ablehnung, ist der Druck oft zu groß und sie kippen ins alte Verhalten zurück, um Liebe und Anerkennung nicht zu verlieren. Denn ein weiterer Urtrieb ist der, akzeptiert und geliebt zu werden, zu dem wir noch kommen.
Triebe und Instinkte sind notwendig, sie erfüllen ihren Zweck. Sie kämpfen um unser Leben, sorgen für Fortpflanzung, doch sie halten uns eben auch klein und stehen unserer Entwicklung im Weg, solange sie uns unbewusst beherrschen. Da sich Vertrautes, ob positiv oder negativ, besser anfühlt als Neues, Unvertrautes, verharren wir oft lieber lange Zeit in einer Misere als aufzustehen und unsere Lebensumstände zu verbessern, gemäß dem Motto „lieber bis zum Hals in der Kloake stecken, die ich kenne, als den Kopf heben und frische Luft atmen, die mir fremd ist!“. Wer weiß, was dann geschieht, und ob es nicht noch schlimmer wird? Die Angst vor Fremdem lässt grüßen.
Um Ängsten unserer Instinkte auszuweichen, geraten wir unter Umständen in völlige Isolation. Wir gehen im Laufe des Lebens immer weniger auf andere zu, können und wollen uns immer weniger auf Neues einlassen, werden immer un-beweglicher und starr in Körper und Verhalten.
Wer sich aus dem Leben herausnimmt, verliert sehr schnell den Bezug dazu, da sich alles rasant entwickelt. Das fängt beim Ticketautomaten an, der plötzlich anders aussieht und eine andere Bedienung verlangt, Umgangsformen und Alltagssprache verändern sich. Eines Tages ist alles Vertraute weg, alles wird noch fremder und bedrohlicher und führt zu noch mehr Rückzug – der reinste Teufelskreis.
Das Zwischenmenschliche will geübt werden, es braucht ebenso Training wie Muskeln oder wie lesen und schreiben lernen. Das beruhigt auch die Instinkte, sie gewöhnen sich daran. Mit Gewohnheit zähmen wir das Tier und darum geht es, nicht darum, es zu töten. Wir brauchen es unbedingt, es gehört zum Leben, zum Körper. Es gehört ebenso zu unserer Entwicklung. Wir müssen über unseren Schatten springen und auf andere zugehen, uns mit Fremden und Fremdem vertraut machen, trotz Angst. Das ist ein wichtiger Teil des menschlichen Bewusstseinsentwicklungsweges.
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