1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 „Kind, warum das denn? Du brauchst doch nicht zu studieren, um einen Mann zu kriegen!“, hatten sie ausgerufen und Eduard musste lachen, wie die junge Frau ihre Eltern parodierte.
Immer weiter erzählten sie, immer persönlicher, Eduard gestand, wie er eingebrochen war, direkt nach dem Krieg, und wie er sich schämte. Nein, das hatte sie nicht müssen, ihr Vater hatte immer genug verdient, aber mitleidig sah sie ihn an:
„Vier Jahre im Krieg und dann nichts zu essen, das muss ja furchtbar gewesen sein.“
Er sah ihren mitleidigen Blick
„Aber das war nicht das Schlimmste“, sagte er, „einmal in diesen Kriegsjahren, es war im zweiten Jahr, bin ich dem Kaiser begegnet. Er besuchte die Westfront in Frankreich und zeichnete einige der Offiziere aus, unter anderen auch mich. Da stand ich ihm gegenüber und sah ihm in dieses kaiserliche Gesicht. Ich sah den geraden Blick aus seinen klaren strengen Augen, ich sah den Schnurrbart, der aufwärts gebürstet war, ich sah die aufrechte Gestalt, unseren obersten Kriegsherrn und sah darin alles, was richtig und klar war, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Güte, Gerechtigkeit, alles das war für mich in dieser Gestalt gebündelt, in unserem Kaiser. Ich wusste: Für ihn, diesen Kaiser, hatte ich gekämpft und würde weiterkämpfen bis zum Tode oder bis zum Sieg, und ich kämpfte weiter, ich tötete, verwundete und siegte, bis zum Ende. Und dann kapitulierte Deutschland und wir erfuhren: Er war nicht gefallen, er hatte nicht mannhaft dem Feind das Schwert übergeben, nein, er war geflohen, schändlich hatte er sich davongemacht, er, unser Kaiser.“
Eduard machte eine Pause und holte tief Luft, er sah Andrea gerade an:
„Und seitdem weiß ich nichts mehr. Alles ist falsch, was ich bis dahin gefühlt und gedacht habe, nichts stimmt mehr.“
Andrea sah ihn an, lange, schweigend, mitfühlend, gerade in die Augen.
„Aber wir“, flüsterte sie endlich, „stimmt das auch nicht? Sitzen wir nicht hier und sprechen über uns?“
Eduards Augen waren voller Tränen.
„Doch, das schon. Aber die Vergangenheit sitzt auch hier. Ich habe gekämpft, ich habe getötet, es war richtig und gut, solange ich an das Reich, an den Kaiser geglaubt habe und es wurde falsch, wenn das Reich und der Kaiser nichts war, hohl, und ich kam zurück, ausgebrannt und leer und musste mir mein Essen zusammenstehlen.“
„Eduard“, bat sie, „Eduard, können wir nicht die Vergangenheit einen Moment lang vergessen und an uns denken, an die Zukunft. Darf ich Eduard und du zu dir sagen? Darf ich dich daran erinnern, wie jung wir sind und was wir vor uns haben? Wir schaffen uns einen neuen Glauben, ein neues Reich und Neues, an das wir glauben.“
Eduard sah sie an.
„Andrea, ich weiß seit langem, du heißt Andrea, ja, gerne sage ich du zu dir.“
Für diesmal trennten sie sich, aber schnell gewöhnten sich die Kommilitonen aus der Fakultät daran, Eduard mit dieser einzigen Frau in ihrem Kreis zusammen zu sehen, sie besuchten Vorlesungen, saßen nebeneinander, lernten miteinander.
„Gehst du mit mir, Eduard?“ fragte sie ihn eines Nachmittags, „heute Abend auf eine Versammlung?“
„Worum geht es denn?“
„Das ist eine politische Versammlung von Menschen, die sich gegen das Unwesen der Freikorps wenden. Sie haben sich die Gründung einer Räterepublik auf die Fahnen geschrieben, weißt du, wie vor einigen Jahren in München.“
„Aber wird darüber noch diskutiert? Ich denke, die Räterepublik ist gescheitert, haben sie die nicht niedergeschlagen und ihre Führer ermordet?“
„Ja, eben, sie haben ihre Führer ermordet, und seitdem machen sich auch in München, wie hier in Königsfeld, die Schläger der Freikorps breit. Wir wollen das verhindern.“
Eduard wunderte sich. Er hatte sich nie mit Andrea über Politik unterhalten, sich auch nie dafür interessiert. Klar, der Kaiser war geflohen, das Kaiserreich gab es nicht mehr, erst hatte Revolution auf dem Programm gestanden, dann war die Republik gegründet worden, aber Eduard kannte weder die politischen Parteien noch die Menschen, die sie vertraten. Er hatte genug damit zu tun, sich und seine Schwester zu ernähren und noch zu studieren, für anderes hatte er keine Zeit.
Er hatte allerdings die Rotten von uniformierten jungen Männern wahrgenommen, die sich in der Innenstadt immer wieder versammelten und ihre Parolen schrien. Er wusste, auch in Königsfeld ermordeten sie diejenigen, die ihnen entgegentreten wollten. Eduard empfand Unbehagen, wenn er sie sah und wich ihnen aus. Er für seinen Teil hatte genug gekämpft, er wollte sich möglichst schnell ein ziviles Leben aufbauen, nein, mit Politik wollte er nichts zu tun haben.
„Bitte, Eduard, dieses eine Mal komm doch mit“, bat ihn Andrea, als er ihr das sagte, „hör dir doch einfach nur mal an, was sie sagen, du brauchst ja nicht selbst mit zu machen.“
Und so gingen sie, es war Herbst und die Bäume hatten angefangen, ihr Laub abzuwerfen, durch den regnerischen Abend in die Innenstadt. Der Weg war weit, aber Eduard ging gerne und viel. Nach einer Dreiviertelstunde kamen sie an einem Hochhaus an, das am Ende des Krieges durch Bomben stark beschädigt und noch nicht wiederaufgebaut worden war. Andrea kannte sich offenbar aus, sie führte ihn durch die Eingangstür in den Hof und in einen Keller, aus dem Stimmen kamen.
Andrea stellte Eduard dem Posten vor, der an der Tür die Besucher kontrollierte.
„Das ist Eduard Eschenburg, Maurer und Student, ich bürge für ihn.“
Der Posten nickte und sie betraten den Keller.
In der rauchgeschwängerten Luft konnte Eduard zunächst nichts erkennen, er, der nie geraucht hatte, empfand einen starken Hustenreiz, unterdrückte ihn und setzte sich neben Andrea auf einen Stuhl am Rand einer ganzen Reihe. Der Saal war voll besetzt, ziemlich weit vorne sprach ein Mann mit einer hellen, durchdringenden Stimme.
„Und deshalb, Genossen“, rief er gerade energisch, „müssen wir verhindern, dass wir in Königsfeld und dass das ganze deutsche Reich jemals wieder in einen imperialistischen Krieg gezogen wird.“
„Richtig“, schallte es ihm entgegen und Eduard fühlte sich erleichtert. Das kam ihm mindestens entgegen. Er fing an, sich zu entspannen und betrachtete die Menschen um sich herum. Männer waren es zumeist, Eduard konnte höchstens drei oder vier Frauen entdecken, von denen eine Andrea war. Sonst saßen hier Männer, junge Männer unter dreißig waren in der Überzahl, aber direkt vor ihm saß einer, der mit Sicherheit über fünfzig Jahre alt war und mehrere andere, die Eduard ansah, waren ungefähr ebenso alt. Harte und kluge Gesichter sah er um sich herum, die Falten tief eingegraben, auch die jungen hatten viel gesehen, klar, dachte er, die waren alle wie er im Krieg gewesen und hatten gelitten.
Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Redner zu.
„Wir wissen, wie die Räterepublik von den Freikorps und den Berliner Soldaten zusammengeschossen worden ist, wir wissen, wie sie die Idee der Menschenrechte und der Freiheit in Blut erstickt haben“, schmetterte er, „und trotzdem werden wir nicht ruhen, bis wir hier in Königsfeld und im deutschen Reich eine neue kommunistische Republik errichten, kraftvoll, mit unseren proletarischen Ideen!“
Tosender Beifall, Klatschen und Zurufe erfüllten den engen Raum und der Redner trat von der Bühne ab, er wurde von einem stillen jungen Mann abgelöst, der die Grüße der bayrischen Genossen überbrachte, ein anderer forderte die anwesenden Genossen auf, einen Räterat zu gründen.
„Schade“, flüsterte Andrea Eduard zu, „wir sind ein bisschen spät gekommen, wir haben den Genossen Tondern nur am Schluss gehört, das ist ein Redner.“
Zum Ende der Versammlung sangen sie die Internationale. Eduard sang mit, von der Begeisterung um ihn herum angesteckt, bis zur letzten Zeile
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