Inzwischen war Andreas auch ohne abtrocknen trocken und konnte gleich direkt ins Bett. Er zog die Vorhänge vor und ließ sich in das frisch bezogene Doppelbett plumpsen. Das war Luxus! Es dauerte nicht lange und er war eingeschlafen. Um zwei Uhr wachte er wieder auf und fühlte sich zum ersten Mal seit einem halben Jahr wieder ausgeschlafen. Er stand auf und zog die Vorhänge zurück. Von hier aus konnte man auf den See schauen. Nichts hatte sich verändert. Er ging zum Schrank und nahm sich eine Jeans und ein schwarzes Poloshirt heraus. Dazu Turnschuhe. Wie leicht sie waren. Viel leichter als seine Stiefel, welche er die letzten sechs Monate getragen hatte. Er sah noch kurz in den Spiegel und schlug nun die Richtung zum Salon ein. Als er die Tür öffnete, saßen da schon Martin und seine Eltern, sein Vater und seine Mutter Marianne. Seine Mutter schaute überrascht zur Tür. Sie hatte niemanden erwartet. Da stand er plötzlich - ihr Andreas „Andreas! Wo kommst du denn her?“, sagte sie, schlug die Hände vor den Mund und sprang gleichzeitig auf. „Ich hab Urlaub Mutter und wollte euch überraschen!“ Mit Tränen in den Augen lief sie ihm entgegen und nahm ihn die Arme, was er erwiderte. „Oh! Ich bin so froh, dass du hier bist und dazu noch gesund! Du musst hungrig sein mein Sohn – setz dich!“, sagte sie dann zu ihm. Er begrüßte noch Martins Eltern Kerstin und Felix Dahlmeier. Dann setzte er sich. Es gab Käsekuchen, Windbeutel und Kaffee. „Iss Andreas!“, forderte seine Mutter ihn auf. „Mutter, eigentlich habe ich gar keinen Hunger“, antwortete er. Irgendwie brachte er es nur schwer fertig seinen Magen wieder auf feste Mahlzeiten umzustellen. Und er wollte schon gar nicht mit Kuchen anfangen. „Aber Kaffee nimmst du?“ „Ja Kaffee nehme ich!“
„Wie ist es dir ergangen Andreas? Wo warst du stationiert?“, fragte nun Herr Dahlmeier. „Leider darf ich ihnen nicht sagen wo ich war. Aber wie es mir ergangen ist schon. Zum Teil. Es ist eine ganz schöne Umstellung. Allein schon das Klima ist komplett anders als hier. Es regnet nur selten und die Vegetation ist eher trocken, fast so als wäre man in der Wüste“, erzählte Andreas. „Und wie könnt ihr euch dann waschen, mit so wenig Wasser?“, fragte nun Frau Dahlmeier. „Das Basislager ist ausgerüstet mit Wassertanks. Diese werden in regelmäßigen Abständen durch Flugzeuge aufgetankt. Pro Tag können aber immer nur eine bestimmte Anzahl Männer duschen. Ansonsten wäscht man sich nur. Die hygienischen Verhältnisse kann man mit denen hier in Deutschland nicht vergleichen“, erklärte Andreas. „Und Essen, was bekommt ihr zu essen?“, fragte nun seine Mutter. „Was wir zu essen bekommen, können wir mit dem Löffel essen. Es wird mit Wasser essbar gemacht. Diese Mahlzeiten haben aber einen sehr hohen Energiegehalt und halten für längere Zeit an, so sind sie auch für mehrtägige Einsätze geeignet.“ „Und warst du auch schon draußen mit im Einsatz Junior?“, wollte sein Vater wissen. „Vater, ich darf dir das nicht erzählen“, erwiderte Andreas nur kurz. „Also ja!“, sagte sein Vater deshalb. „Und warst du dann unter Beschuss?“, bohrte sein Vater weiter. In Anbetracht der gestrigen Ereignisse, traf das Andreas wie ein Schlag und er wirkte nervös und wurde blass. „Auch das darf ich dir nicht erzählen Vater“, antwortete er mit stockender Stimme. „Wir als deine Eltern werden doch wohl wissen dürfen, wenn du dich in Gefahr begibst oder?“, regte sich seine Mutter nun auf. „Mutter, ich bin in einem Krisengebiet, was denkst du wohl?“, erklärte er nun matt. Andreas war jetzt genervt. Er wollte das alles eigentlich für die Zeit seines Urlaubs hinter sich lassen. Es würde ihn früh genug wieder einholen. „Könnten wir jetzt bitte über etwas Anderes sprechen?“, warf Martin nun ein, der seinem Freund ansah, was in ihm vorging. Andreas sah dankbar zu ihm hinüber.
„Was gibt es bei euch Neues?“, fragte er deshalb um ein anderes Thema anzuschlagen. Seine Mutter sah ihn an. „Deine erste Freundin Franziska ist nun schon zum zweiten Mal Mutter geworden. Frau Behringer ist also schon zum zweiten Mal Oma!“, erzählte sie schon fast vorwurfsvoll. „Aber meine Kinder tun ja beide nicht dazu. Ich würde auch gerne Oma werden. Aber Sophie macht Karriere als Architektin und mein Sohn, ja mein Sohn treibt sich im Ausland rum“, bemerkte sie, den Blick auf Andreas gerichtet. „Als wäre ich freiwillig dort!“, sagte Andreas vor sich hin, so als würde er es zu sich selbst sagen. Es reichte ihm jetzt, er war wütend, genervt und irgendwie überfordert. Er brauchte dringend frische Luft. Ruckartig stand er auf „Entschuldigt mich bitte!“, mit diesen Worten verließ er den Raum. Martin sah ihm nach und wusste, dass er ihn jetzt alleine lassen musste. „Mutter, du bist zu weit gegangen“, sagte nun Andreas Vater.
Andreas lief zum See. Schweigend stand er auf dem Steg. Der gestrige Tag war nun wieder da. Er hatte ihn so gut verdrängt. Sie hatten ihn, in ihm wieder in Erinnerung gerufen. Die Bilder liefen vor seinem geistigen Auge ab. Als sie weggerannt waren hatte er nur gedacht, hoffentlich geht es schnell wenn sie mich kriegen. Über kurze Phasen hatte er schon mit seinem Leben abgeschlossen. Und – er hatte wahrscheinlich einen Menschen erschossen.
Er schaute hinüber in den Wald. Wie oft waren er und Sophie früher dorthin geschwommen. Sie hatten dann immer ein Lager gebaut. Manchmal waren sie sogar mit Vater dort Zelten. Es waren schöne Zeiten gewesen, sie hatten sich um nichts gesorgt und einfach ihr Leben genossen.
Jetzt war erst ein halbes Jahr vorüber. Wie sollte er das noch dreieinhalb aushalten? Er hatte das Gefühl, dass die Lage dort unten sich von Tag zu Tag zuspitzte und das bereitete ihm Sorgen. Er setzte sich auf den Steg. Die frische Luft tat ihm gut. Vor allem war es hier eine andere Luft als in Syrien – klarer – nicht so stickig und warm. Er liebte Winterluft. Plötzlich verspürte er den starken Wunsch, hier bleiben zu können.
Nach einer halben Stunde wurde es kalt und er ging zurück zum Haus. Der Salon war nun leer. Er schaute in die Bibliothek. Sein Vater saß im Rollstuhl und las. Ohne sich umzudrehen sagte er: „Na mein Sohn, hat dir die frische Luft gut getan?“ „Ja Vater, hat sie. Wo sind die Anderen?“ „Marianne und Kerstin sind in der Küche und Felix wollte mit Martin eine Runde spazieren gehen.“ Da öffnete sich die Tür zur Bibliothek. „Ah, das trifft sich gut mein Junge, dass du auch gerade da bist. Es tut mir leid, ich bin gerade zu weit gegangen. Weil ich solche Sorge um dich habe und über die ganze Situation so wütend bin, projiziere ich nun auch noch meine Wut auf dich, wo du doch gar nichts dafür kannst“, erklärte seine Mutter nun entschuldigend. „Ist schon in Ordnung Mutter. Ich würde mich auch lieber um die Familienplanung kümmern, das kannst du mir glauben.“ „Ich weiß mein Junge, ich weiß“, sagte Marianne und tätschelte ihm verständnisvoll den Arm. „Am liebsten würde ich nicht mehr zurück“, verlieh Andreas nun zum ersten Mal seinen Gefühlen Ausdruck. „Wisst ihr, ich hab kein gutes Gefühl dort! Wirklich!“ Sein Vater kam angerollt. „Ich weiß! Ich würde dir das so gerne abnehmen mein Sohn!“, sagte er traurig. „Mir ist die Lage dort unten durchaus bekannt. Ich kriege die Meldungen jeden Tag mit im Büro. Und es spitzt sich zu, das wirst du auch schon gemerkt haben!“ „Ja, ich habe es bemerkt. Deswegen wünsche ich mir, dass wir während meines Urlaubs hier, nicht mehr davon sprechen. Ich muss noch früh genug dorthin zurück“, bat nun Andreas. „Einverstanden“, sagten nun seine Eltern gleichzeitig.
Seine Mutter ging auf ihn zu und strich ihm liebevoll über den Arm „Was möchtest du heute Abend essen?“, fragte sie. „Ich hab keinen besonderen Wunsch Mutter. Ich freu mich über Alles!“, gab er ihr zur Antwort. „Ich habe heute Abend nach dem Essen eine kleine Romme-Runde. Du bist doch auch da, oder?“, fragte sie ihn nun. „Nein Mutter, nach dem Abendessen werde ich nicht da sein!“, erklärte Andreas nun kurz. Enttäuscht fragte seine Mutter: „Du willst zu ihr? Zu Susanne?“ „Ja!“, gab er zu. „Sie wird dich mir wegnehmen!“, sagte sie leise. „Was?“, fragte Andreas nun erschüttert. „Ja sie wird dich mir wegnehmen – entweder dieser Krieg – oder sie“, erwiderte seine Mutter matt. „Unsinn, du weißt, du wirst immer meine Mutter bleiben! Außerdem wenn du Oma werden willst, wird es sich nicht verhindern lassen, dass ich flügge werde“, sagte er nun und legte den Arm um ihre Schulter. „Du hast ja Recht Andreas. Aber es fällt mir so schwer dich loszulassen und ich bin einfach durcheinander. Ich liebe dich mein Sohn!“ „Ich weiß! Ich liebe euch auch, beide! Bitte vergesst das nie!“
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