Er schien sich nur für ihre verdreckte Kleidung zu interessieren, die er einsammelte und in die Waschmaschine stopfte. Ob die verschiedenen Teile zusammen gewaschen werden durften, ob sie alle neunzig Grad vertrugen, interessierte ihn nicht. Hier einen Unterschied zu machen, wäre Unsinn gewesen.
„Ich muss noch mal kurz weg!“ rief er durch die Badezimmertür, dann hörte Carmen, wie die Wohnungstür geöffnet und abgeschlossen wurde.
Nun bin ich gefangen!
Im Geist ging sie alle Möglichkeiten durch, die sie hatte.
Auf normalem Weg konnte sie die Wohnung nicht verlassen. Über den Balkon konnte sie ebenfalls nicht flüchten. Der Abstand zu dem Balkon der Nachbarwohnung war zu groß. Abseilen konnte sie sich auch nicht. Schon der Gedanke daran bereitete ihr Schwindel.
Also sich fügen und alles über sich ergehen lassen?
Sie ließ sich am hinteren Rand der Badewanne hinab gleiten, schloss die Augen und tauchte den Kopf in das warme Wasser.
Wenn er schon kassierte, dann wollte sie das Bad wenigstens genießen.
Immer wieder ließ sie warmes Wasser nachlaufen, bis sie schließlich den Stöpsel zog und die Seifenreste von ihrem Körper abduschte.
In dem kleinen Badezimmerregal entdeckte sie eine Flasche Bodylotion, cremte sich sorgfältig ein und betrachtete sich im Spiegel. Sie war zufrieden. So hatte sie sich noch nie gesehen.
Zu Hause in dem winzigen Badezimmer, das noch den Terrazzoboden und den Ölfarbanstrich aus den fünfziger Jahren hatte, war der Spiegel so winzig, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt von sich sah.
Und das Licht war einfach grauenhaft. Da konnte man sich nicht schön machen.
Dann ging sie auf die Suche nach einem passenden Kleidungsstück.
Das Schlafzimmer war ein langer und recht schmaler Schlauch. Vorne, hinter der Tür stand der Kleiderschrank, der sich über die ganze Zimmerbreite erstreckte. An der langen Wand stand das Bett, größer als es für eine Person nötig war, aber auch kein Doppelbett. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch mit Computer und einigen Büchern.
Carmen öffnete alle Schranktüren, fuhr mit der Hand über die Pullover und Wäsche, setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und ließ ihren Blick über die Schrankfächer gleiten. Endlich hatte sie ihre Wahl getroffen.
Auf eine Hose verzichtete sie. Heikos Hosen waren ihr viel zu groß. Sie wäre darin ertrunken.
Vorsichtig zog sie einen kuscheligen baumwollenen Pullover heraus. Auch in dem würde sie ertrinken, aber es war der einzige, der zu ihr passte. Er war so weit und lang, dass er bis unter ihre Pobacken reichte, fast wie ein Kleid. Die Ärmel krempelte sie zweimal um und schob sie hoch, so dass sie nicht rutschen konnten.
So setzte sie sich auf das Sofa, die langen angezogenen Beinen mit den Armen umschlungen, den Kopf auf die Knie gebettet. Jetzt konnte Heiko Müller kommen.
Oder Jose?
Sie würde ihn fragen.
Der Schlüssel knirschte im Schloss, die Tür öffnete sich, und Heiko trat ein, hängte seine Jacke an den Garderobenhaken und betrat, mit zwei Einkaufstüten beladen, das Wohnzimmer. Noch hatte er Carmen nicht wahrgenommen, war nur damit beschäftigt, seine Einkaufstüten sicher auf der Arbeitsplatte abzulegen, da sah er sie.
Was er sah, übertraf alle seine Erwartungen.
Er hatte ein hübsches Mädchen erwartet, nachdem sie von all dem Schmutz befreit war.
Was er sah, war eine Schönheit.
Wie gebannt starrte er auf ihre Beine, die der Pullover nicht bedecken konnte, so sehr Carmen an ihm auch ziehen mochte.
Er sah das sanfte Gekräusel ihrer Schamhaare, ahnte ihre jungen straffen Brüste unter dem voluminösen Pullover.
Er sah ihren schlanken Hals, der sich aus dem Ausschnitt reckte, den etwas zur Seite geneigten Kopf, der auf ihren Knien ruhte, und die langen schwarzen Haare, die wie ein leichter Vorhang ihren Kopf umschmiegten.
„Ich habe uns etwas zu essen besorgt“, riss er sich von dem Anblick los.
Leicht wie eine Feder stand sie auf, zog den Pullover etwas in die Länge und kam auf ihn zu, reckte sich ein klein wenig, bis sie sein Gesicht erreichte, und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Das geschah so selbstverständlich, so unvorbereitet, dass beide einen Augenblick innehielten.
Müller bückte sich und holte aus der untersten Schublade eines Schrankens zwei Holzbretter hervor, entnahm einer anderen Schublade, direkt neben dem Herd, vier Messer, zwei Küchen- und zwei Kochmesser und verteilte sie auf die beiden Bretter.
Er stülpte die Einkaufsbeutel um und ließ ihren Inhalt auf die Arbeitsplatte fallen, Tomaten, Paprika, Zucchini, eine Aubergine.
Als Carmen ihn fragend ansah, nickte er nur.
„Ich weiß ja nicht, wie groß dein Hunger ist.“
Dem Kühlschrank entnahm er ein noch verpacktes Kaninchen, tranchierte es mit geschickten Griffen und zog den Fleischstücken die Häute ab.
Er schien genug geredet zu haben. Was es jetzt zu tun gab, brauchte nicht erklärt zu werden.
„Ist es so richtig?“
Sie hielt ein Stück Paprika hoch.
Er war einverstanden, arbeitete wortlos weiter, sah nur von Zeit zu Zeit zu Carmen hinüber.
„Heißt du nun Heiko oder Jose?“, fragte sie, als sie das Gemüse putzte, das Heiko eingekauft hatte.
Er lachte.
Natürlich hieß er Heiko.
Offensichtlich kannte sie nicht die Figur, nach der sie benannt worden war, wusste nicht, was ihre Namenspatronin mit Jose gemacht hatte. Vielleicht war das auch gut so. Sie konnte schon jetzt einem Mann verdammt gefährlich werden. Noch, so hatte er den Eindruck, geschah alles unbeabsichtigt, einfach so, fast unschuldig. Und sie schlug ihn und ganz sicher jeden anderen Mann in ihren Bann. Wie würde das erst sein, wenn Absicht dahinter stünde!
Er warf ihr einen heimlichen Blick zu, während er das Fleisch in mundgerechte Stücke schnitt.
Wie sie sich bewegte, wie sie das Messer hielt und das Gemüse putzte und schnitt, das alles ließ darauf schließen, dass sie in geordneten Verhältnissen aufgewachsen war, dass sie ihrer Mutter in der Küche hatte helfen müssen.
„Sag mal?“, begann Heiko beiläufig, „wie war das bei euch, nachdem dein Vater zu trinken angefangen hatte? Was hat denn deine Mutter dazu gesagt?“
„Ach, das kam ja nicht von einem Tag zum anderen. Das hat langsam begonnen. Erst hat mein Vater nur zu Hause gesessen und vor sich hin gebrütet. Dann hat er schon nach dem Frühstück sein erstes Bier getrunken. Meine Mutter fand das nicht gut, aber sie hat das geduldet. ‚Wenigstens diese kleine Freude soll er haben’, hat sie gesagt.
Als sie dann die Putzstelle im Supermarkt bekam, musste sie morgens um fünf aus dem Haus, und sie hat meinen Vater schlafen lassen. ‚Was soll er so früh schon aufstehen? Er hat doch nichts zu tun’, hat sie gesagt.
Und er tat auch nichts. Wenn meine Mutter um elf nach Hause kam, war er gerade mal aufgestanden und hatte gefrühstückt. Und die ersten zwei Bier getrunken.
Glaub nicht, dass er sein Geschirr weggeräumt hätte. Das stand alles noch auf dem Küchentisch. Und die Marmelade und Margarine. Und natürlich die Bierflaschen.
‚Wenigstens das hättest du wegräumen können!’, schimpfte meine Mutter. Da hat er sie einfach stehen lassen, hat sich eine neue Flasche Bier geschnappt und ist ins Wohnzimmer gegangen.
Irgendwann hat meine Mutter gemerkt, dass er heimlich Schnaps trank. Immer Wodka, den riecht man nämlich nicht. Erst nur ein kleines Glas, dann reichte das nicht mehr, und er nahm ein größeres Glas.
Als meine Mutter eine zweite Putzstelle angenommen hatte und erst nachmittags nach Hause kam, da ging es mit ihm ganz bergab.
Er stand erst mittags auf, trank keinen Kaffee mehr, sondern gleich Bier und spülte das Frühstück mit Wodka runter. Ein Glas brauchte er schon nicht mehr. Er trank gleich aus der Flasche. Aus dem Haus ging er nur noch, um neuen Wodka zu kaufen.
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