Entsprechend schlecht gelaunt erschien Achtsam anderntags im Revier. Wieder machte er seinem Ärger Luft und polterte: >>Opfer tot, Mörder tot – genau genommen war´s das. Aber wir, bitteschön, sollen den ganzen Unrat noch mal hin und her wälzen, damit die Journaille sich aufregen und uns beschimpfen kann. Grusch! <<
Achtsam schnauzte auch Beamte an, die sich nichts vorzuwerfen hatten und gab dann Weisung für das weitere Vorgehen: Verhöre der Familienmitglieder, Nachbarn, Kollegen, Freunde und Bekannten, Einvernahme des ehemaligen Arbeitgebers (>>soweit vorhanden<<) und der Ärzte (>>vielleicht war der Täter ja krank im Kopf! <<). Routinemäßig lief die Ermittlungsmaschine an. Am Ende kam es, wie Achtsam, gestützt auf jahrzehntelange leidvolle Erfahrung in seinem Beruf, schon zu Beginn geahnt hatte: Die Auswertungen der Ermittlungsergebnisse und alle Bemühungen, das Motiv des Täters zu ergründen, führten zu nichts.
Auf einer kurz darauf anberaumten Pressekonferenz musste sich Achtsam zusammenreißen und Gelassenheit heucheln. Es wurmte ihn, dass er keine Ermittlungserfolge präsentieren konnte, sich aber die kritischen, respektlosen und teilweise unverschämten Fragen der Journalisten anhören musste. Unglücklicherweise war in diesen Wochen sonst nicht viel los, so dass die lokalen Zeitungen und Magazine, regionalen Rundfunksender und die kostenlosen Anzeigenblätter ihre Hörer und Leser immer wieder mit den vermeintlichen Fehlleistungen der Polizei fütterten. Kaum verwunderlich, dass in manchen Artikeln und Kommentaren personelle Konsequenzen in der Leitung der Mordkommission gefordert wurden.
Hauptkommissar Achtsam tat das bei Tischgesprächen in der Polizeikantine großkotzig als >Journalisten– Gewäsch< ab (>>die wissen nicht, was sie sonst schreiben sollen<<). Doch ganz spurlos ging das Trommelfeuer an ihm nicht vorbei. Es schien ihm sogar, dass der Polizeipräsident, wenn er ihm auf den Fluren des Präsidiums begegnete, nicht mehr so freundlich grüßte wie sonst. Voller Wut, Abscheu und Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt spürte Achtsam, dass er dringend eine Auszeit brauchte. Er meldete sich für einen zweiwöchigen Urlaub ab, auch um endlich angesammelte Überstunden abzufeiern. Lieber wäre es ihm gewesen, sich die geleistete Mehrarbeit in Geld vergüten zu lassen. Aber diese Möglichkeit war vom Innenminister aus Ersparnisgründen gestrichen worden.
Eine ausreichende, den Hunger vermeidende Nahrungsaufnahme hatte für den übergewichtigen Lazarus Wolfson schon immer hohen Stellenwert. Für wohlbeleibte Männer, zu denen er sich rechnen musste, sei, so seine Überzeugung, Hunger besonders schädlich; denn der menschliche Körper deute einen knurrenden Magen fälschlich als Signal für eine kurz bevorstehende oder gar schon ausgebrochene Hungersnot. Um für die vermeintlich drohenden mageren Zeiten vorzusorgen, weigere sich der Körper, die über lange Zeit angelegten Fettreserven abzubauen. Stattdessen werde wertvolle Muskelmasse verbrannt.
Aus Angst vor dem Hungergefühl aber auch, weil es ihm einfach schmeckte, langte Wolfson stets kräftig zu. Bei einer Körperlänge von 1,73 Metern und einem Gewicht von 95 Kilo war sein Body Maß Index auf den bedenklichen Adipositas-Wert von 32 gestiegen.
Wolfson machte sich Sorgen um seine Gesundheit. Wenn ihn, wie an diesem Morgen, nach einem üppigen Abendessen der Magen drückte, dachte er sogleich an eine sich womöglich ankündigende Magenschleimhautentzündung. Wie viele Hypochonder hielt auch er medizinische Instrumente für die Selbstdiagnose bereit. Noch im Pyjama auf der Bettkante sitzend, holte er aus dem Nachtschrank ein Set für den Helibacter-Pylori-Test. Mit einer Stechhilfe produzierte er aus der Kuppe seines Mittelfingers einen Blutstropfen und ließ ihn auf das Testfeld der Prüfkassette fallen. Nachdem er das Eigenblut mit einer Prüfflüssigkeit kontaminiert hatte, musste er bange zehn Minuten warten, ob sich auf der Glasplatte zwei lilafarbene Streifen zeigen würden. Gottlob blieb die Verfärbung aus. Keine Gastritis.
Soweit es seine Körperfülle zuließ, betrat er eine Dreiviertelstunde später federnd und tatendurstig seine Büroräume. Die waren Teil seiner riesigen Wohnung von fast 380 Quadratmetern. Noch bevor er seinen Schreibtisch erreichte, vor dem ein Drehsessel mit extra breiter Sitzfläche aus einer Spezialanfertigung stand, fing ihn seine Sekretärin Frau Sybille Zwinger ab. Es habe sich ein Herr Brandeisen gemeldet, der möglicherweise einen Auftrag für die Detektei habe und dringend um Rückruf bäte.
>>Das kann warten<<, entschied Wolfson. >>Wer was will, meldet sich wieder – oder lässt es bleiben.<< Wolfson genoss es, nicht nötig zu haben, Kunden nachzulaufen und um Aufträge zu betteln. Er hatte sich den Ruf eines ausgefuchsten Schnüfflers erworben, als es ihm vor zwei Jahren gelungen war, einen Coup zu landen, um den ihn seine Kollegen aus der Schlapphutbrache bewunderten und beneideten. Was Polizei, Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft nicht geschafft hatten, schien dem Büro Wolfson keine Schwierigkeiten bereitet zu haben, nämlich den Beweis zu führen, dass ein angesehener Konzern mit Wissen von Vorstand und Aufsichtsrat durch verschleiernde Auslandsgeschäfte etliche Millionen Euro am Finanzamt vorbei verdient hatte. Der Prozess vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts, in dem Wolfson als Zeuge auftrat, machte das >Büro für private Ermittlungen L. Wolfson< weithin bekannt und verschaffte dem >dicken Detektiv< das Renommee eines Star- Ermittlers.
Eine Stunde später rief der Mensch Brandeisen wieder an. Wolfson hörte seine Sekretärin sprechen: >>Ja, einen Moment bitte, ich werde Sie jetzt mit Herrn Wolfson verbinden.<< Sie sagte das in einem Tonfall, der keinen Zweifel ließ, dass es als besonderes Privileg zu gelten habe, den berühmten Detektiv sprechen zu dürfen. Wolfson wurde wieder einmal bewusst, welch eine qualifizierte Kraft Frau Zwinger war. Sollte sie ihn um eine Gehaltserhöhung angehen, würde er kaum Argumente finden, ihr die Bitte abzuschlagen.
Nachdem Frau Zwinger ihm das Büro- Handy gereicht hatte, wartete er noch eine halbe Minute bis er sich meldete: >>Wolfson, ready to speak, worum geht´s?<<
Es stellte sich heraus, dass am anderen Ende Richard Brandeisen redete, der Bruder der ermordeten Elisabeth Brandeisen- Hernadez. Er wolle das Büro Wolfson beauftragen, denjenigen dingfest zu machen, der den Mörder angestiftet habe, das grauenhafte Verbrechen an seiner Schwester zu begehen. Es handele sich dabei zweifelsfrei um seinen Schwager Jerome Manuel Hernadez, der es in der Ehe mit Schwester Elisabeth nur ausgehalten habe, um schließlich an ihr Geld zu kommen.
>>Damit sind Sie aber bei mir falsch gelandet<<, knurrte Wolfson. >>Die Ermittlungen in dieser Sache führt Hauptkommissar Achtsam von der Mordkommission. Meine Sekretärin kann Ihnen gern dessen Durchwahlnummer zukommen lassen.<<
>>Ach was<<, sagte Brandeisen, >>die Polizei ist unfähig, überfordert und desinteressiert. Bei meiner Vernehmung habe ich denen nichts von meinem Hintergrundwissen erzählt. Die Folge wäre nur gewesen, dass unsere Familiengeschichten in der Öffentlichkeit breitgetreten worden wären. Nein, zur Polizei habe ich kein Vertrauen.<<
>>Tja, das tut mir dann aber leid, dabei kann ich Ihnen nicht helfen<<, bellte Wolfson schroffer als er eigentlich wollte. Das lag daran, dass er in diesem Augenblick einen stechenden Schmerz an seiner Bandscheibe spürte, die ihm schon seit längerem zu schaffen machte. Durch eine andere Sitzposition auf seinem Spezialsessel suchte er Linderung zu erreichen.
>>Hören Sie mal<<, muckte Brandeisen auf, >>ich bin bereit, Sie gut zu bezahlen, ich lasse mich von Ihnen nicht so einfach abwimmeln.<<
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