Konrad schaute Nicolas ängstlich an. Er wusste nicht so recht, was er dem älteren Jungen sagen sollte, der gerade seinen Vater verloren hatte.
„Hast du schon die Pferde gefüttert, Konrad?“ fragte Nicolas etwas barsch. Froh darüber, dass sein Freund von so etwas Banalem, wie dem Füttern von Pferden, anfing, nahm er ihm den Tonfall nicht übel.
„Ja, auch Basilius, das Pferd deines Vaters. Aber Falk hat gesagt, Basilius gehöre jetzt dem Markgrafen.“ Konrad warf dem Älteren einen unsicheren Blick zu. „Ich hatte Zeit, das Pferd zu füttern“, fügte er schnell hinzu, als er sah, dass Nicolas protestieren wollte. „Was meinst du, Nico, ob der alte Hohnsberg uns heute mitnimmt, wenn er mit den Rekruten nach Helmsdorf auf die große Wiese reitet?“ Schon öfters waren die beiden Jungen mit den Rekruten geritten, auch wenn ihre Ausbildung zum Knappen noch nicht begonnen hatte. Sie waren Pagen am Tisch des Markgrafen. Doch Tassilo sah es gern, wenn die Knaben der Ausbildung der jungen Krieger zuschauten. So konnten sie schon einiges über das Waffenhandwerk lernen. Auch wurde es nun langsam Zeit, dass Nicolas seine Ausbildung zum Knappen begann. Tassilo hatte Nicolas bereits vor Wochen versprochen, mit dessen Vater zu reden. Nun hatte sich alles geändert. Nicolas fragte sich, wer wohl von nun an über seine Geschicke bestimmen würde. Er hatte in dieser Sache bestimmt kein Mitspracherecht. Er wünschte sich fort von hier, in die fernen Wälder, von denen Konrad manchmal mit so viel Wehmut sprach. Ob er diese jemals sehen würde? Wie herrlich wäre es, mit Basilius unter den hohen Bäumen dahinzupreschen, dem Rauschen des Windes in den lichten Wipfeln zu lauschen. Er kannte nur die kleinen Gehölze, die am Ufer der Elbe standen. Zwar wurde er in der Stadt Freiberg nahe des großen Dunkelwaldes geboren, aber seine Eltern folgten bald dem Ruf Ottos des Reichen an dessen Hof, wo sein Vater zunächst in den Diensten des alten Markgrafen stand. Es war eine Ehre gewesen, die der Familie von Lichtenwalde anheimgefallen war. Oft erzählte der Vater ihm davon, dass sein Großvater ein enger Vertrauter des deutschen Kaisers Barbarossa gewesen war und dieser ihm reiche Ländereien unweit von Freiberg bis hin zum dunklen Wald für dessen Verdienste zum Lehen gegeben hatte. Nach dem Tod des alten Marquard erbte sein Vater all das, doch war diesem nie die Zeit geblieben, sich selbst um die Besitzungen zu kümmern. So übernahmen diese Aufgabe wiederum Lehnsmänner. Einer von ihnen war Konrads Vater.
„Nein, ich glaube nicht, dass er das tut“, antwortete Nicolas nach einer Weile.
„Was tut?“ fragte Konrad verwundert, der schon wieder ganz anderen Gedanken nachhing und eigentlich gar keine Antwort mehr auf seine Frage erwartet hatte.
„Ich meine, dass er uns mitnimmt, auf die Wiese. Der Markgraf erwartet heute einen Gesandten vom König. Das habe ich in der Küche gehört. Dort backen und braten sie schon seit dem frühen Morgen. Da werden wir bei Tisch bedienen müssen. Eigentlich habe ich auch gar keine Lust auf irgendwelche Kämpfe… nicht heute.“ Nachdenklich starrte Nicolas auf das Stroh, was vor ihm in den Boxen lag.
„Du warst in der Küche? Was wolltest du dort? Warum hast Du der Köchin nicht ein paar Küchlein vom Blech stibitzt? Der Hirsebrei am Morgen war wieder ohne Honig. Ich glaube, die junge Markgräfin wollte uns für unsere Sünden bestrafen.“
„Konrad, was glaubst du…Ich hatte heute morgen bestimmt keine Gedanken für deine Kuchen“ brauste Nicolas auf. „Was sagst du da?, fuhr er etwas milder fort. „Die Markgräfin hat Euch für Eure Sünden bestraft? Warum? Was haben die armen Stallknechte getan?“
Konrad schaute zu Boden und wagte nicht, den Blick zu Nicolas aufzuheben. „Sag es mir, Konni. Warum? Was für Sünden?“
„Ich habe gehört, wie die alte Berthe, die den Morgenbrei bringt, zu einer der Mägde gesagt hat, es sei eine Schande, dass ein so tapferer Ritter wie Isbert umkommen musste, nur weil ein dahergelaufener Galan nicht seinen Hosenlatz zulassen kann. Und die Knechte im Stall hätten auch noch zugeschaut, anstatt die beiden aus dem Stroh zu jagen.“ Nicolas schnappte nach Luft.
„Was ist los Nico? Weißt du, was sie gemeint hat?“
Der Ältere strich dem Knaben mit der Hand über die blonden Locken und nickte langsam. „Du würdest es nicht verstehen.“ Aber er, er verstand es, er wusste, was sie gemeint hatten. Auch wenn er erst zwölf Jahre alt war. Oh, wie er seine Mutter hasste.
Stimmengewirr riss Nicolas aus seinen Gedanken. Die Knappen, welche unter Tassilos Aufsicht standen, kamen, um ihre Pferde zu holen. Ein hochgewachsener Jüngling betrat als erster den Stall. Sein langes schwarzes Haar war zu einem losen Zopf geflochten und fiel ihm weit über den Rücken. Seine dunkelblauen Augen glitzerten im Licht der Stalllaterne kalt wie Stahl. Als er Nicolas sah, blieb er unvermittelt stehen und musterte ihn mit einem Anflug eines boshaften Lächelns. Obwohl nur zwei Jahre älter als Nicolas, überragte er diesen bereits um mehr als einen Kopf. In wenigen Jahren würde er zu einem stattlichen Mann herangewachsen sein. Doch ging von ihm bereits jetzt eine Kälte aus, die einen schaudern machte.
„Hallo Falk“ rief der kleine Konrad. „Ich habe dein Pferd bereits mit Zaumzeug versehen, du musst nur noch den Sattel auflegen.“ Konrad schaute voller Erwartung eines Lobes zu Falk auf. Falk dankte ihm mit einem kurzen Nicken und nahm den Sattel vom Haken an der Wand der Box. Dabei ließ er Nicolas nicht aus den Augen.
„Wieso machst du das, Konrad? Du stehst in Diensten meiner Familie, nicht in seiner!“ rief Nicolas heftig. Ein höhnisches Auflachen Falks ließ ihn seinen Ausbruch sofort bereuen.
„Welche Familie, armer Nicolas? Deine Familie hat heute früh aufgehört zu existieren. Schon vergessen?“
Blind vor Wut stürzte sich Nicolas auf den Älteren. Dieser hatte den Angriff vorausgesehen und bevor Nicolas ihn erreichte, versetzte er ihm schon einen Schlag, der ihn in die Box zurücktaumeln ließ.
Doch Nicolas wollte nicht klein beigeben. „Falk von Schellenberg, wer gibt dir das Recht dazu, so zu reden? Was weißt du schon von meiner Familie oder davon, was passiert ist?“
„Genug, um zu wissen, dass du den Dreck unter meinen Stiefeln nicht wert bist“ entgegnete Falk kalt und wandte sich ab, um sein Pferd zu satteln.
Die anderen Zöglinge, die nach Falk in den Stall gekommen waren, lauschten mit betretenem Schweigen dem Wortwechsel zwischen Falk und Nicolas. Doch keiner wagte es, ein Wort für Nicolas einzulegen. Selbst die älteren verspürten keine Lust, sich mit dem Schellenberger anzulegen. Trotz seiner vierzehn Jahre war er bereits sehr kräftig und hatte schon manchem von ihnen eine blutige Nase geschlagen. Auch gehörte seine Familie zu den mächtigen Reichsministerialen, die Kaiser Barbarossa zur Erweiterung seines Reiches im Osten eingesetzt hatte. Sie besaßen gewaltige Ländereien am Fuße des Dunkelwaldes nahe der reichsfreien Stadt Chemnitz. Falk wusste, dass er sich alles erlauben konnte, solange nur sein Lehrer Tassilo von Hohnberg nicht in der Nähe war. Falk zog den Sattelgurt fest und führte das Pferd aus dem Stall, ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen.
Die jungen Rekruten machten jetzt ihre Pferde bereit, um auf der nahen Wiese mit ihren Waffen zu trainieren. Einer nach dem anderen verließ den Stall, ohne ein Wort an Nicolas zu richten. Höchstens heimliche verstohlene Blicke warfen sie ihm zu, manche gepaart mit einem boshaften Lächeln, aber auch Blicke des Mitleides und der Entrüstung. Nicolas entging keiner dieser Blicke, und er prägte sie sich sehr genau ein. Schon jetzt wusste er wohl unter Freund und Feind zu unterschieden.
Da spürte er den vagen Druck einer Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Thilo von Jessen, ein Knabe, kaum älter als er, erst seit wenigen Wochen unter der Aufsicht Tassilos. Bis vor kurzem hatten sie noch gemeinsam an der Tafel des Markgrafen gedient, dann war Thilo zum Knappen berufen worden. Jetzt stand Thilo hinter ihm und blickte ihn entschuldigend an. „Vergiss, was er gesagt hat, Nico. Du weißt, wie arrogant er ist. Er glaubt, etwas Besseres zu sein, weil sein Vater in der Gunst Albrechts ganz oben steht. Aber, glaube mir, die Jungen sind nicht alle so. Sie haben nur Angst vor ihm.“
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