Doch irgendwann, Ronda, das schwöre ich, erhebe ich mich. Irgendwann Ronda, werde ich verstehen, welcher Teil des Spiegels du bist. Und dann werde ich verstehen, wer ich bin. Dann werde ich auch wissen, wer du bist, was du so sehr fürchtest.
Ich bin immer bestrebt, mich selbst zu entdecken. Mich aus vorgefertigten Strukturen herauszuschälen, um mich wieder ein Stück weit neu zu finden. Das ist mein Lebenszweck. Der einzige, für den es sich lohnt, nachzudenken. Das Blöde an der Sache ist nur, dass ich dann über alles im Leben nachdenken muss, weil es Abermillionen Möglichkeiten in Abermillionen eingebetteten Strukturen gibt. Das ist ein Dilemma.
Ein intensives Leben bedeutet eben auch, die hohen wie die tiefen Lagen zu kennen. Sie zu durchleben in allen Einzelheiten.
Die Ronda-Träume haben mich aufgerüttelt. Irgendwie. Irgendetwas ist geschehen mit mir, seit her. Ich spüre, dass ich etwas ausbrüte, mich bereit mache für eine Art Geburt, die da ansteht. Mir ist aber noch unbekannt was es sein wird, ob es neu oder alt ist, was da in mein Leben drängt. Aber es darf kommen, das Unbekannte. Der Draufgänger in mir ist bereit, jede erdenkliche Situation zu meistern, mich ihr zu stellen.
Momentan bewege ich mich im Zeitlupentempo vorwärts, das macht mich unrund. In meinem Leben darf alles einem gewissen Tempo folgen. Die Dinge müssen nicht rasen, aber eine gewisse Schnelligkeit setzte ich voraus, um mich wohl zu fühlen. Wenn mir etwas zu schnell wird, nehme ich Tempo heraus, ich will die Dinge um mich in der eigenen Hand und Geschwindigkeit drehen können. Nur die Beherrschung der Dinge gibt mir die Sicherheit, dass nicht die Umstände und Dinge mich beherrschen. Ich bin bestrebt, die Dinge beim Namen nennen zu können. Das gibt mir Macht über die Dinge und nicht umgekehrt. Deshalb zerlege ich alles und jedes, was mich irgendwie beschäftigt. Schlimm wird es, wenn ich das Heranrollende bereits spüren kann, ich weiß da kommt jetzt was auf mich zu, es aber immer noch zu weit entfernt ist, um es genauer ausmachen, es beim Namen nennen zu können.
So ist das auch jetzt.
Ich habe Druck auf meinen Augen. Mir ist, als würde meine Sehkraft schwinden, erliege einem Herzschmerz, den ich nicht einzuordnen vermag. Das macht mich irre. Ich fühle, dass es nichts mit Ronda zu tun hat. Es hat mit etwas zu tun, das mir fremd ist. Ich kenne die Energie nicht, die sich mir aufdrängt. Ich mag keine sich mir aufdrängenden Dinge. Sie nehmen mir mein Recht, authentisch zu leben.
Seit Stunden schon bin ich aus meinem Körper getreten, vegetiere auf meiner Couch ohne Kontrolle über die Dinge. Ich dissoziiere auf unheimliche Art und Weise. Und ich glaube, dass es diese Form der Dissoziation ist, von der Therapeuten meinen, dass sie ungesund und gefährlich ist.
Ja. Gefährlich. Einen korrekteren Ausdruck für meine momentane Lage kann es wohl nicht geben.
Meine Versuche herauszufinden, wohin ich abgedriftet bin, scheinen nicht zu fruchten, und doch erkenne ich einen Ort ohne Namen, ohne erkennbare, gerechtfertigte Existenz.
Weiß der Teufel, wohin mich mein Geist soeben getragen hat. Ich weiß aber, dass alles seine Berechtigung hat, alles zum rechten Zeitpunkt ankommt, wie Züge, die einem Fahrplan folgen.
Ich kenne grundsätzlich meine Fahrpläne und welcher Zug wann und wo einfahren soll. Ich schreibe meine Fahrpläne selbst. Ich allein entscheide, welche Passagiere er mitzunehmen gedenkt und ob er überhaupt mit samt den Passagieren wieder zu mir zurück an den Hauptbahnhof zurückkehren darf.
An so einem Bahnhof befinde ich mich. Und das ist schon mal eine Hilfe. Also nenne ich ihn Friedhofsbahnhof. Ich brauche ja einen Namen, um mich orientieren zu können. Es gibt keinen Zug, keine Geleise, alles ist voller Dreck. Die Erde ist feucht und es stinkt nach Aas. Im Zwielicht lässt es sich nicht gut erkennen, was vor mir in der Ferne allein am Boden liegt. Und das will ich jetzt sehen. Mutig also schreite ich der Unheimlichkeit entgegen. Und irgendetwas in mir hält mich zurück, lehnt sich gegen mich auf, will mich brechen in meinem Mut, meine Lust zu entdecken. Eine männliche Stimme redet auf mich ein: „Lass es, du hast dort nichts verloren!“ Wo kommt sie nur her, diese Stimme in meinem Inneren. Ich muss wohl wahnsinnig werden. Ich folge ihr nicht, der Stimme in meinem Innersten. „Stop jetzt!“ ruft sie und zerrt an mir. „Wir gehen da nicht hin. Es interessiert nicht. Niemand will wissen was dort ist!“
Jetzt sind wir schon ein Wir? Wer ist bitteschön „Wir“? Will ich das wissen? Nein. Soll ich das wissen? Nein.
„Ohne mich wärst du heute nicht mehr, Isa!“ schnalzt es durch mein gesamtes Ich. „Du und ich sind eins. Und das soll auch so bleiben.“ Ich schätze mal, dass es mein Ego ist, ein Teil von mir, ein verdammt männlich orientierter, dominanter Teil.
„Ah“, sag ich jetzt, „du bist der mit dem Stock-im-Arsch! Du kommst zu spät, mein Freund. Ich bearbeite und entferne gerade arschkneifenden Unrat wie dich.“
Aber ich weiß, dass er sich nicht abschütteln lässt. Er hat es sich bequem gemacht in mir. Ignorieren. Einfach ignorieren. Das ist jetzt mein Motto, will ich herausfinden was dort liegt, im Matsch. Meine Neugierde treibt mich. Und Stock-im-Arsch redet unablässig auf mich ein. „Nicht hingehen. Du wirst es bereuen. Verdammt wenn du weiterläufst kannst du nicht mehr mit mir rechnen. Ich werde dich nicht weiter durchs Leben schleppen.“ „Hör endlich auf zu schreien“, denk ich. „Arschloch. Wer braucht dich schon!“
Und ich schreite weiter, auf irgendetwas zu, das wie ein Bündel aussieht „Da liegt was, ich glaube das lebt!“
Arschloch zieht eine finstere Miene. „Ich sag doch: Lass es liegen! Das ist nichts für uns.“
Aber Arschloch bleibt nun mal Arschloch, daran kann selbst ich nichts ändern. Und Arschlöcher haben mir schon lang nichts mehr zu sagen, das wird auch er einsehen müssen.
Vorsichtig schleiche ich also hin zu dem Bündel. Und umso näher ich dem Etwas komme, desto eher erkenne ich, dass es kein Bündel ist. Ich muss jetzt wissen was das ist, das da im Morast liegt. Mir ist kalt, ich friere. Der Himmel ist grau in grau, und ich bemerke, wie sich die Nacht unaufhörlich über die Wolken stülpt. Hier lebt nichts mehr. Kein Baum, keine Blume, ja nicht einmal ein wenig Wärme, verläuft sich hierher in diese Düsternis.
Ich bücke mich und muss nachsehen. „Verdammte Scheiße, Himmelherrgott!“ schreie ich und laufe einige Schritte zurück. Mein Mund steht sperrangelweit offen. Ich kann nicht glauben, was ich soeben gesehen habe. „Glaube es nur“, ächzt Arschloch. „Du wolltest ja nicht auf mich hören!“
„Was ist das? Ist das … das ist ein Körper!“ stottere ich. „Stimmt das? Ist das ein Mensch?“ Ich kann´s nicht glauben. So was habe ich noch nie gesehen. Weder real noch in irgendeiner anderen Form.
Ich habe Angst. Fühle mich, als hätte mir Arschloch soeben einhundert Stöcke in mein Hinterteil getrieben.
„Los jetzt, verschwinden wir von hier. Komm schon, das ist nicht der richtige Ort für uns zwei. Lass es liegen! Es liegt schon ewig da und braucht uns nicht!“ Aber Arschloch kann sagen was er will. Ich muss das jetzt sehen. Ich kann gar nicht anders. Und Arschloch muss erkennen, dass ich stärker bin.
Mir ist ganz Bang ums Herz. Meine Beine machen wieder ein paar Schritte, direkt auf das vor mir Liegende zu. Und jetzt sehe ich was hier liegt, völlig allein und vollkommen zerstört.
Es ist ein Kind. Ein Mädchen. Maximal fünf Jahre alt, und ihm fehlen alle Gliedmaßen. Ihr Oberkörper liegt nackt im Schlamm. Mir bleibt die Luft zum Atmen weg, ich fasse es nicht. Ich weiß jetzt nicht was ich tun soll. Und Arschloch redet ständig auf mich ein, dass wir verschwinden sollen. „Verschwinde du gefälligst“, zische ich. „ich muss mich jetzt um die Kleine kümmern.“ „Es ist doch schon lange tot“, plärrt Arschloch zurück.
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