Heute hatte die Dame Mao Anli um seinen Besuch gebeten, da ihr in letzter Zeit öfters übel war. Die Dame war eine Nebenfrau seiner himmlischen Majestät und hatte Doktor Yao bisher nur selten in Anspruch genommen. Da der Arzt ohnehin nur wenig mit den Damen sprechen konnte, wusste er wenig über sie. Als er nun von dem Eunuchen Zhao abgeholt wurde, erzählte dieser ungefragt alles, was es über diese Dame zu erfahren gab. Sie war als Kind armer Eltern einem hohen Beamten aufgefallen. Dieser kaufte sie im Alter von vierzehn Jahren von ihren Eltern, welche so ihre Schuldenlast verringern wollten, und brachte sie an den Hof. Als sie dem Kaiser vorgestellt wurde, war dieser ganz entzückt von ihr und nahm sie zu seiner Nebenfrau. Dies war eine hohe Ehre. Normalerweise wäre sie zunächst nur einfaches Mitglied des kaiserlichen Harems geworden. Dies verschaffte ihr natürlich gleich sehr viele Neider. Das Leben im Haus der Nebenfrauen war nicht leicht für sie, zumal der Kaiser, der sehr flatterhaft war, sie auch schnell wieder vergaß. Damit sank sie auch wieder in der Rangfolge weit nach unten. Sie war aber eine kluge Frau, die sich mit Hilfe privater Lehrer bildete und sich mit Seidenstickerei und Kalligrafie beschäftigte und so ihr Leben bereicherte. Auch besuchte sie regelmäßig den buddhistischen Tempel des Palastes, um dort zu beten und zu meditieren. Sie versuchte sich dem Wettstreit unter den Damen des Palastes fern zu halten.
Als der Arzt und sein Begleiter nun zum Empfangsraum des Palastes des fortgesetzten Glücks kamen, der Wohnstätte der hohen kaiserlichen Damen in den sogenannten Westlichen Palästen, humpelte ihnen ein alter Eunuch entgegen und rief aufgeregt:
„Die Dame Mao ist zusammengebrochen und hat sich übergeben. Sie ist ohnmächtig geworden. Schnell, schnell!“ Er geleitete eilig, ganz entgegen den üblichen Gepflogenheiten, den Arzt hinter den Vorhang, wo die Nebenfrau neben dem Stuhl verkrümmt auf dem Boden lag. Ein Dienstmädchen reinigte ihr das Gesicht und klatschte immer wieder mit den Fingern auf ihre Wangen, die völlig blass waren. Der Arzt ergriff den Puls der Liegenden und stellte fest, dass sie noch lebte. Der Puls 4zeigte ihm toxische Hitze an, giftige Substanzen mussten sich im Körper befinden und die Energie der Dame schwächen. Außerdem gab es Hinweise, dass die Dame schwanger war. Yao sagte zu der Dienerin:
„Offensichtlich hat die Dame eine Vergiftung erlitten. Bringen Sie schnell einen Becher Wasser mit einem Löffel Salz darin. Sie soll sich nochmals übergeben und dann viel frisches Wasser oder kalten Tee trinken. Danach sollte sie ruhen. Ich schaue später noch mal nach ihr. Und bitte verwahren Sie die Reste des Erbrochenen in einem verschließbaren Krug.“ Er roch noch an Mund und Nase und fühlte die Temperatur des Gesichts.
„Seit wann ist die Dame schon in diesem Zustand?“ fragte er den alten Eunuchen.
„Sie ist erst kurz bevor Sie kamen zusammengebrochen, hat sich übergeben und sich vor Schmerz gewunden. Dann zuckte sie nur noch ein paar Mal und lag plötzlich ruhig da.“
„Hat sie kurz vorher etwas gegessen oder getrunken?“
Der Beschnittene überlegte kurz und entgegnete:
„Vor Kurzem hat sie einen kleinen Imbiss genommen, ich glaube, es war etwas Reisbrei mit Bohnen und eine Schale Tee.“ Doktor Yao war nun sicher, dass hier eine Vergiftung vorlag. Nachdem das Salzwasser gebracht worden war, flößte er es langsam der Dame ein. Dann presste er auf einen Akupunkturpunkt unter der Nase und am kleinen Finger, sodass sie wieder zu sich kam. Sogleich musste sie sich übergeben. Die Dienerin hielt ihr den Kopf, sodass das Erbrochene direkt in den Krug floss. Der Arzt nahm dann den Krug an sich und beauftragte den Eunuchen, die Dame nicht aus den Augen zu lassen. Er solle ihn benachrichtigen, sobald sich ihr Zustand veränderte. Yao ging dann mit dem Krug zu einem Müllhaufen. Dort hielten sich verwilderte Katzen und Ratten auf. Er schüttete den Krug aus, zog sich etwas zurück und wartete ab. Schon bald kam eine Ratte angelaufen und machte sich gierig über das Erbrochene her. Schon nach kurzer Zeit begann sie zu zucken und fiel um. Wenig später schon rührte sie sich nicht mehr und als er sie mit einem Stöckchen anrührte, war sie völlig leblos. Dies bestätigte seine Vermutung. Er rief einen Diener und forderte ihn auf, das Erbrochene und die Ratte tief zu begraben. Dann ging er nach Hause und dachte darüber nach, wer der Dame wohl nach dem Leben trachten könnte. Es würde fast unmöglich sein herauszufinden, wer das Essen oder ein Getränk vergiftet hat. Es gab so viele Menschen im Palast und zahlreiche Möglichkeiten zur Manipulation. Aber vielleicht konnte die Dame Mao selbst etwas zur Aufklärung der Angelegenheit beitragen, da sie ja glücklicherweise den Anschlag überlebt hatte. Er würde am frühen Abend nochmals zu ihr gehen.
Als er dies zur neunten Stunde 5tun wollte, teilte ihm der diensthabende Eunuch mit, dass es der Dame schon sehr viel besser ginge. Sie wünsche ihn zurzeit nicht zu sehen. Der Doktor war nun doch sehr verwundert. Konnte die Frau den Giftanschlag so schnell überstanden haben? Das schien ihm aufgrund seiner Untersuchungen schwer möglich. Es war ihm nicht erlaubt, ohne die Begleitung eines Eunuchen den inneren Palastbezirk zu betreten, er konnte also die Dame nicht spontan aufsuchen. Wie konnte er trotzdem zu ihr gelangen? Da fiel ihm ein, dass die alte Dame Li, die schon sehr lange in diesem Palast lebte, aber den Sohn des Himmels noch nie von nahem gesehen hatte, sicher schon sehnsüchtig auf seinen Besuch wartete. Sie spielte aufgrund ihres Alters im Intrigenspiel am Hofe keine Rolle mehr. Im Grunde war sie nur eine bessere Dienerin, die sich ein wenig um jüngere Hofdamen kümmerte und ihnen Ratschläge gab.Zusätzlich sorgte sie für die Weiterverbreitung von Klatsch und Tratsch. Trotz der langen Zeit, die sie am Hofe war, hatte ihre Seele scheinbar noch keinen Schaden genommen. Sie war allseits beliebt, da sie sich nicht einmischte und sich immer im Hintergrund hielt. Ihre Kunst war es, nirgendwo anzuecken und niemandes Feind zu werden. Sie bewohnte ein kleines Zimmer im Haus der kaiserlichen Damen. Aufgrund ihres Alters litt sie an rheumatischen Beschwerden und ihre verkrüppelten Füße machten ihr das Laufen immer schwerer. Sie hatte den Doktor in ihr Herz geschlossen und freute sich immer darauf, ihn zu sehen. Er ließ anfragen, ob er sie besuchen könne. Sie sandte ihm bald schon einen noch sehr jungen, sehr verschüchterten Eunuchen, der froh war um jeden Dienst, den er für eine der Damen tun konnte, um so der Langeweile zu entfliehen. Mit ihm eilte Doktor Yao ins Haus der kaiserlichen Konkubinen, um die edle Frau Li aufzusuchen. Frau Lis kleines Zimmer war mehr eine Abstellkammer, was offensichtlich ihrer Stellung am Hofe entsprach. Aber sie musste sich noch glücklich schätzen: Viele ältere Damen wurden vom Hofe vertrieben und mussten dann noch im hohen Alter um ihren Lebensunterhalt kämpfen oder ihn erbetteln. Normalerweise hätte der Arzt das Zimmer einer Dame auch gar nicht betreten können. Aber da sie schon alt war und sehr schlecht laufen konnte, wurde in ihrem Fall eine Ausnahme gemacht. Genau dies war das Ziel des Arztes: So würde er vielleicht auch unbemerkt zu Dame Mao vordringen können. Dies war allerdings mit einem hohen Risiko verbunden und könnte ihn den Kopf kosten, wenn es aufgedeckt würde. Als er das Zimmer der alten Dame betrat, lag diese auf ihrem Bett. Neben ihr saß eine Dienerin mit recht hübschem Gesicht, die aber wohl eher eine Freundin der alten Frau als ihre Bediente war. Die Dame Li begrüßte den Arzt freudig:
„Oh ehrenwerter Doktor, Sie haben mich nicht vergessen, wie es jeder hier tut. Die alte Frau Li ist ja nichts mehr wert. Meine Füße schmerzen heute wieder sehr. Haben Sie nicht eine Medizin für mich?“ Wie viele Frauen im alten China, waren ihr von Kindheit an die Füße verkrüppelt worden. Kleine Füße und ein trippelnder Schritt bei Frauen galten als besonders reizvoll und das bereitete ihr nun immer wieder Schmerzen beim Laufen. Der Arzt begrüßte die alte Dame:
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