1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 „Was geht hier nur vor?“, murmelte die bleiche Grace entsetzt und drückte so sehr meine Finger, dass ich Schmerzen empfand. Sie zitterte an allen Gliedern. Für einen Moment war ich versucht, sie in meine Arme zu nehmen. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Auch meine innere Angst stieg.
„Lass uns gehen!“, forderte ich. Grace sah mich mit großen Augen an. „Ich habe große Furcht!“, hauchte die Arme. Wir waren uns durch die verborgene Gefahr auf besondere Weise nahe, wie noch nie. Sie erschien mir so kindlich bezaubernd, geradezu des Beschützen wert und unheimlich schön.
Wir eilten schnurstracks aus der Tür. Diese schlug zäh quietschend hinter uns in den Riegel. Als ich kurz zurücksah, war mir so, als gewahrte ich die verschwundene Alte hinter einer Gardine uns nachschauen und verächtlich lachen. Das konnte aber auch eine Sinnestäuschung sein, denn es war ziemlich dunkel auf der Straße und hinter den Gardinen nur mattes Kerzenlicht.
Wir hörten ganz in der Nähe weiteres Gewehrfeuer und panisches Geschrei. Das ließ nichts Gutes ahnen.
Wir schritten hastig davon, fast liefen wir. Nieselregen setzte ein.
„Ich weiß nicht, ob man der Alten glauben kann“, relativierte ich im Laufen. „Zumindest hat sie mir bestätigt, dass ich die Allervollkommenste finde. Ich muss mich gleich wieder den Berechnungen zuwenden.“
Grace schüttelte den Kopf und blieb stehen. Sie hatte sich inzwischen wieder gefasst. Die frische Luft tat nach dem Gestank in dem Hexenhäuschen gut.
„Sie hat doch nicht gesagt, dass du die Vollkommene nur mit Hilfe der Mathematik findest, eher das Gegenteil. Erinnere dich einfach, was sie zu Anfang murmelte. Sie bezeichnete deine Idee als Humbug.“
Ich dachte verblüfft nach. Wäre die Alte nur nicht so schnell verschwunden, dann hätte ich da noch nachhaken können.
„Nein, so war das nicht von ihr gemeint. Indirekt hat sie später bestätigt, dass ich die Vollkommene finde“, beharrte ich.
„Nein! Sie hat etwas vollkommen Anderes gesagt.“ Meine Begleiterin wirkte unzufrieden.
„Inwiefern?“, bohrte ich und hatte das Gefühl, dass wir uns heftig stritten.
„Was heißt wohl: Du siehst nicht das, was direkt neben dir ist?“, klärte sie mich auf.
„Das ist oft so bei wissenschaftlichen Problemen und zudem eine allgemeine Redeweise“, belehrte ich sie. Wieso stellte sie sich gerade jetzt so aufreizend hin? Ich übersah nicht, dass sie ihren schönen Busen unter dem Mantel besonders in meine Richtung präsentierte.
Die aufgebrachte Grace schlug sich aufgeregt die Hand vor den Kopf.
„Denk doch nach! Es gibt eben auch etwas anderes als die Wissenschaft! Wer saß denn da gerade neben dir, als sie das sagte?“
Wir waren an einem Platz angekommen, an dem zwei wartende Droschken standen. Die Kutscher unterhielten sich aufgeregt und wiesen in Richtung der Schüsse.
Ironisch schaute ich Grace an. „Du meinst doch nicht etwa, dass sie das wörtlich meinte …“
Meine Freundin schmiss den kleinen Blumenstrauß wütend auf die Straße. Aufgebracht bestieg sie eine Kutsche und gab ihre Adresse an. Das Bummeln war anscheinend beendet.
Im Abfahren rief Grace mir zu: „Melde dich, wenn du endlich weißt, wer die Vollkommene denn nun ist! Vielleicht ist es ja die alte Hexe?“
Temperament hatte die Süße. Doch so sollte eigentlich die Versöhnung nicht enden.
„Meine Mutter schickt mich für längere Zeit zu einer Kur fort!“, rief ich ihr nach.
Durch das laute Getrampel der mit Eisen beschlagenen Pferdehufe verstand ich leider nicht, was sie mir erwiderte.
Mama gab sich leider unerbittlich. Der Einfluss ihres neuen Liebhabers wuchs von Tag zu Tag. Mein Reden half nichts und prallte wie geworfene Steine von einer Mauer ab. Sie schien ihm geradezu hörig zu sein, so als hätte er sie mit Hypnose gefügig gemacht und aus ihr eine neue Persönlichkeit geformt. Ich fühlte mich wie ein Fremder im eigenen Haus. Einzig meine Berechnungen und meine Gedanken an Grace trösteten mich. Sie bildeten geradezu einen erholsamen Rückzugsort.
Unsere letzte Begegnung hatte den leidigen Streit leider auch nicht aus der Welt geschafft. Weder besuchte sie mich, noch schrieb sie mir seitdem. Ich wiederum war zu beschämt oder auch zu stolz, um sie erneut um Verzeihung zu bitten. Ungesagtes trennt zuweilen Menschen mehr als das Ausgesprochene. Was sollte ich ihr auch mitteilen, solange klar war, dass ich eine andere liebte oder lieben würde?
Der bittere Tag der Abreise zu meinem unbekannten Urgroßvater war gekommen. Bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass es einen solchen gab. Vater hatte seine Herkunft stets im Verborgenen gelassen. Ich wusste sehr wenig, eigentlich nichts über dessen Familie. Jetzt kam mir das äußerst merkwürdig vor. Vielleicht schämte er sich seines Großvaters? Wieso gab es einen Urgroßvater aber keine Großeltern dort? Diese wären doch jünger als er. Sehr viele Fragen blieben ohne eine Antwort. Mal sehen was mich noch so erwartete.
Mama hatte mich schon zu Hause verabschiedet und ein paar flüchtige Tränen des angeblichen Kummers vergossen. Der hinterhältige Bursche hatte ihr davon abgeraten, mich zum Zug zu begleiten. Frauen in dem Alter verlieren ihren gesamten Verstand, wenn man ihnen nur ein wenig schmeichelt. Ich hatte leider das Gefühl, dass sie sich in Wirklichkeit sogar heimlich freute, mit ihrem Galan nun ganz allein in der Villa zu sein. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, was er so mit ihr dort trieb und ich fühlte mich verraten.
„Dein Sohn muss für sich Verantwortung übernehmen und sich durchkämpfen. Das ist Teil der Therapie!“, erklärte der hinterhältige Gnom verlogen.
„Die Probleme des realen Lebens kühlen seine Säfte und machen den Kopf für andere Dinge frei! Das ist die einzige Hoffnung für ihn.“ Er bekreuzigte sich sogar zum Schein, als wäre er ein guter Christ und hoffte tatsächlich auf das Beste.
Während er mich theatralisch vor meiner Mutter äußerlich wie seinen eigenen Sohn umarmte, zischte sein übel riechender Mund mir eine Drohung ins Ohr: „Wenn du jemals wiederkommst, stecke ich dich Drecksack in die Irrenanstalt!“
Diese Dreistigkeit sprengte alle Grenzen, selbst der Teufel wäre netter gewesen. Zugleich hielt er meinen Kopf fest eingeklemmt, sodass ich ihn nicht zurückziehen konnte. Sein Zinken fixierte wie eine Zangenhälfte meinen Schädel an dem Platz.
Da ich mich durch den unerbittlichen Griff nicht anders revanchieren konnte, ließ ich während der Umarmung einen großen Fladen Rotz in den Kragen seines Hemdes flutschen und schwor innerlich bittere Rache.
Mama lächelte freudig, da sie uns als neue Freunde träumte und seine falschen Worte nicht gehört hatte. Warum glaubte meine Mutter diesem Scharlatan mehr als mir?
Wie gern hätte ich mich wenigstens von Grace verabschiedet. Ich fühlte mich so unendlich allein. Daran konnte auch mein guter alter vertrauter Kammerdiener nichts ändern.
Unser treuer Hausdiener, mein letzter wahrer Freund, begleitete mich zum Bahnhof.
„Das wird schon Percy!“, murmelte er immer wieder. Seine ergrauten Koteletten wurden vom frischen Wind hin und her geblasen. Er hatte einen braunen Wollmantel über seine Uniform geworfen und trug meinen Kleidersack. Den Koffer hatte ich zurücklassen müssen, da der Doktor diesen kurz vor der Abreise durchschnüffelt und meine Ordner mit zahlreichen Berechnungen darin gefunden hatte. Das Teufelszeug hatte er mir verboten, es bekäme angeblich meiner Gesundheit nicht gut. Mein eidetisches Gedächtnis machte jedoch den Verlust nicht so bedeutsam. Alles war dort abgespeichert. Es würde nur einige Mühen kosten, die Formeln erneut aufzuschreiben.
Die sinnlose Reise begann für mich am Hauptbahnhof. Rauchend und schnaufend stand das eiserne Ungetüm bereit. Die Heizer schaufelten eifrig Kohle in die geöffnete Luke. Fröhlich bestiegen immer neue Gäste die Wagen des bandwurmlangen Gefährts, als würde man sie zu einem Tanzball bringen. Das Gegenteil war natürlich der Fall. Die neue Eisenbahnlinie führte bis in die Tiefen der Black Hills Man hatte sie erst kürzlich fertig gestellt.
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