John bemerkt meine Unruhe. Ganz verschlafen fragt er: „Schatz, was ist los?“
„Dieser Traum. Ich hatte wieder diesen Traum.“
„Vom Wasserstrom?“, kommt von John ganz verschlafen zurück.
„Ja. Diesmal ging das Wasser, in dem ich stand, noch höher. Das Wasser ging mir bis zur Hüfte.“
„Schlaf weiter, Schatz“, gibt John zurück und dreht sich wieder zur Seite.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der Traum etwas bedeutet. Es ist schon die dritte Nacht in Folge. Ich lege mich wieder zurück. Die Gespräche der letzten Tage gehen mir durch den Kopf. Wie kann ich John von seinem riskanten Vorhaben abbringen? – Ich werde nicht mehr schlafen können. Ich öffne den Reißverschluss meines Schlafsacks. Ich lege mir meine Strickjacke über. Dann öffne ich das Zelt und trete hinaus in die Nacht. Ich schaue nach oben. Der Sternenhimmel ist atemberaubend. Es sind so viele Sterne. Viel mehr als in Sausalito. Im Süden steht tief der abnehmende Mond über dem Horizont. Rechts davon sehe ich einen hellen Stern. Sein Licht ist ganz ruhig. Das muss ein Planet sein. Ich wende meinen Blick in den Zenit. Über mir steht das Sommerdreieck. Mein Vater hat es mir schon gezeigt, als ich noch klein war. Wega in der Leier. Deneb im Schwan. Altair im Adler. An Sommerabenden steht diese Konstellation nach Sonnenuntergang genauso am Himmel. Die Milchstraße zieht zart durch Adler und Schwan hinüber in Richtung des Sternbilds Cassiopeia. Zuhause ist die Milchstraße gar nicht sichtbar, doch hier ist das Band in deutlicher und funkelnder Pracht zu sehen. Gott hat das alles wundervoll geschaffen. Auch die Sonnenfinsternis vor drei Wochen – am Tag nach unserem Hochzeitstag – war spannend anzusehen. Es ist alles so wunderbar! Wie kann man all das sehen, ohne an einen Schöpfer zu glauben? Ich wünsche mir für John so sehr, dass auch er glauben kann. An den lebendigen Gott, der seinen Sohn Jesus Christus uns Menschen schenkte, damit wir volles Leben haben. Das ist das Leben, das ich mir für uns wünsche. Kein höheres Gehalt. Kein größeres Haus. Gemeinsam glauben. Gemeinsam Gott vertrauen. Das wünsche ich mir. Ich schaue in die Pracht des Nachthimmels. Von Osten her steigt schon ganz sanft die Dämmerung herauf. Tränen stehen mir in den Augen, als ich an John denke. Da sehe ich mit einem Mal den hellen Morgenstern im Osten. Der Morgenstern ist wie ein Versprechen, dass auch heute wieder die Sonne aufgehen wird. Über John und mir. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich glaube, es wäre schön, einmal mit Sarah über alles zu sprechen. Mich einfach mal mit meiner Freundin auszutauschen. Die Dämmerung ist immer deutlicher zu sehen. Der Horizont wird in rötliches Licht getaucht. Mit einem Mal fühle ich mich schon besser. Es wird schon einen Weg geben, auf dem John und ich gehen können. Darauf will ich fest hoffen.
Die Sonne geht auf. In voller Farbenpracht. Ich höre, dass John langsam wach geworden ist. Kurz darauf kommt er aus dem Zelt: „Guten Morgen, Laura.“
„Guten Morgen, Liebling.“
„Ich verschwinde mal kurz auf die Toilette.“ – John geht zu dem kleinen Häuschen neben den Duschen. Wir umarmen uns zärtlich, als er nach einer Weile wieder zurückkehrt.
„Ich habe heute Morgen viel an dich gedacht, als ich hier draußen stand.“
„Und ich habe von dir ganz viel geträumt, als ich da drinnen schlief.“ – John grinst mich an.
Wir gehen uns beide waschen, ziehen uns um und gehen dann zum Frühstücken ins Restaurant. Es öffnet früh.
„Es ist doch die schönste Zeit des Tages“, schwärme ich, während John mir gegenüber am Tisch auf der Holzterrasse Platz nimmt. Wir bestellen uns Rührei mit Speck. Ich greife nach Johns Hand. – „Wenn wir heute Abend zuhause sind, werde ich schauen, ob Sarah Zeit hat. Vielleicht rufe ich sie heute Vormittag schon an.“
„Oh, Mädchentreffen?“, scherzt John.
„Ja“, gebe ich lächelnd zurück. Ich genieße diesen Moment.
Mit einem leisen Surren ziehen die kleinen Motoren die Heringe wieder aus der Erde. Das Zelt fällt kurz darauf in sich zusammen. Ich brauche es nur noch zusammenzurollen und im Auto zu verstauen. Die Sonne steht inzwischen hoch am Taghimmel. Laura macht heute einen besseren Eindruck auf mich. Sie wirkt irgendwie gelöster und befreiter. Sie hat mir gesagt, dass es ihr heute Morgen gut getan hat, den anbrechenden Tag zu beobachten. Ich freue mich für sie. Ich nehme heute Morgen nach dem Frühstück nur noch eine Tablette Nurofen. Die Kopfschmerzen sind nicht mehr ganz so stark. Mein Gaumen fühlt sich heute schon nicht mehr so wund an. Und auch der Durchfall war heute Morgen schon etwas weniger. – Nachdem wir alles in unseren Chrysler gepackt haben, hole ich den Rucksack mit unserem Proviant wieder vom Mast herab. Ich lege ihn ins Auto. Ich will wegen der Bären nicht mit dem Proviant durch den Yosemite-Park laufen, wir wären ja ein gefundenes Fressen für hungrige Raubtiere.
Danach beginnen wir unsere Wanderung. Laura nimmt meine Hand. Ich ziehe Laura zu mir und umarme sie.
Sie schmiegt sich an mich: „Du bist wundervoll.“
„Danke. Du auch.“ – Ich tippe mit meiner Hand auf ihre Stirn: „Ich liebe dich unendlich.“
„Und ich liebe dich unendlich.“
Hand in Hand wandern wir zurück in Richtung Valley. Außer uns sind auch einige wenige andere Paare unterwegs. Wir sehen Granitfelsen, Wasserfälle und klare Bäche. Auch Riesenmammutbäume stehen an unserem Weg. Wir kommen über eine steinerne Brücke, die über einen Fluss führt und sehen kurz darauf wieder eines der großen Blockhäuser, die ein Restaurant beherbergen. Es ist schon Mittagszeit. Wir entschließen uns, hier einzukehren. Es gibt gegrillte Wurst mit reichlich Barbecue-Sauce. Ich trinke sicher zwei Liter Wasser, so groß ist mein Durst. Als wir zum Ende des Essens kommen, ordere ich über meine Armbanduhr unseren Chrysler zu uns. Zehn Minuten später ist er da, wir steigen ein und machen uns auf den Heimweg nach Sausalito. Laura lehnt auf der Fahrt liebevoll ihren Kopf an meine Schulter. Ich schaue auf die raue, ursprüngliche Landschaft, die an uns vorbeizieht. Mir geht es schon etwas besser. Übelkeit und Gleichgewichtsstörungen sind fast weg. Vielleicht habe ich mir ein Virus eingefangen. Ich bin mir sicher, dass ich es bald überstanden haben werde.
Michael hatte schon nach dem Telefonat geahnt, dass die Schwierigkeiten nun noch größer werden würden. – „Er spricht“, hatte sie gesagt. – Michael wusste, dass ein Kranker höhere Kosten verursachte als ein Toter. Seine zügigen Schritte waren auf dem Flur vor dem Krankenzimmer laut zu hören, als er kam, um sich von der Sache selbst ein Bild zu machen. Ungeduldig öffnete er die Tür. Jane und Julia hatten ihn bereits erwartet. – „Was ist los?“, fragte Michael ungestüm und blickte auf das Krankenlager.
Der Mann zuckte zusammen. Keinen Laut gab er mehr von sich. Er zitterte.
„Ich denke, er spricht?“, warf Michael ungeduldig in den Raum.
„Er hat gesprochen“, bekräftigte Jane.
„Was?“
„Ist es vorbei?“
– Michael schaute auf den Monitor des EEG-Geräts: Theta-Wellen. Unverändert. Seit einer Woche. – „Er ist in einem Deep Dream. Er schläft tief. Er kann allenfalls träumen, dass er wach ist.“
„Oder er kann wach sein, um dabei einen Traum zu erleben…“, überlegte Jane.
Für einen Moment schaute Michael Jane an. Er kniff die Augen zusammen. – „Möglich“, warf Michael kurz zurück. Sie hatte einen scharfen Verstand. Das war im ganzen Haus bekannt. Vielleicht hatte sie Recht. – „Melden sie sich, wenn es etwas Neues gibt. Im Augenblick scheint er ja keine Monologe zu halten“, gab Michael zurück und hatte schon die Klinke in der Hand, um das Zimmer zu verlassen.
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