„Lass uns zum Diner gehen, und wir essen dort zu Mittag“, schlägt Laura vor.
Ich stimme sofort zu. Jetzt, glaube ich, kann ich wieder etwas essen. Das Rumoren in meinem Bauch ist schon weniger. Und trinken muss ich auch. Ich habe unendlich Durst. Wir gehen zurück in Richtung Valley und kommen zu einem der großen Blockhäuser mit großzügiger Holzterrasse. Hier sitzen schon einige Gäste draußen in der Sonne und nehmen eine Mahlzeit ein. Wir setzen uns an einen der letzten freien Tische des Restaurants und bestellen zwei Steaks. Die Frühlingssonne scheint warm auf uns herab, aber es ist nicht so warm, dass wir den Schatten suchen müssten. Wir sitzen, und ich blinzele gerade in die Sonne, als Laura mich unvermittelt fragt: „Ist Peter eigentlich zurück aus seinem Urlaub?“
– Mein Freund ist schon seit drei Wochen weg. – „Nein, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Er wollte eigentlich nach zwei Wochen wieder da sein. Vielleicht ist er krank?“, mutmaße ich.
„Du könntest dich doch einmal bei ihm melden“, schlägt Laura vor.
„Ja, das werde ich tun.“
– Ich denke kurz nach. Dann sage ich: „Du, ich rufe ihn sofort an.“ – Mit einer Handbewegung ziehe ich mein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wähle Peters Nummer. Es läutet lange. Keine Reaktion. Niemand hebt ab. – „Vielleicht ist er heute wieder auf Biophysical Island? Ich werde am Freitag im Betrieb nach ihm fragen.“
„Gut.“
Unser Essen kommt. Ich gedulde mich, während Laura ein kurzes Gebet spricht. Mir ist nicht klar, was ihr das bringt. Sie schaut mich dann immer an wie ein Kind. Während wir essen, legt Laura das Besteck auf einmal zur Seite: „John, ich hatte wieder diesen Traum. Das Wasser kam wieder aus einer gemauerten Wand. So wie das letzte Mal. Doch diesmal ging ich tiefer in den Strom. Das Wasser ging mir diesmal bis zu den Knien. Wieder wurde ich mitten im Traum wach und konnte mich an jedes Detail erinnern. Was hat das nur zu bedeuten?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat das gar nichts zu bedeuten.“ – Noch immer bin ich sehr durstig. Ich trinke ja wirklich ausreichend. Ich bestelle mir einen zweiten Liter Mineralwasser mit Gas. Ich fühle mit der Zunge die wunde Stelle an meinem Gaumen. Sie ist nicht größer geworden.
Laura bemerkt mein Pausieren und runzelt die Stirn. Sie vergewissert sich: „Ist alles in Ordnung?“
Ich nicke und setze das Essen fort. Schon bald sind wir fertig und legen Messer und Gabel satt zur Seite: „Das war gut“, stellt Laura fest.
„Ja, das Essen war gut.“
Laura schlägt vor: „Wir könnten weiter wandern. Auf der Karte habe ich einen Wasserfall gesehen.“
„Laura, das ist eine gute Idee. Das machen wir.“
Auf der Wanderung ist Laura dann sehr still. Hängt sie irgendwelchen Gedanken nach? Mein Bauch meldet sich wieder. Ich hätte im Restaurant die Toilette aufsuchen sollen. Na, es wird schon gehen.
Dann wird die Gesprächspause jäh unterbrochen. Laura spricht ganz aufgeregt, wie gehetzt: „Bitte mache nicht mit. Ich habe vor der Operation Angst. Ich habe Angst, dass du danach nicht mehr derselbe bist.“
Ich kann ihre Sorgen nicht wirklich verstehen: „Du musst die Chancen sehen, die sich mit diesem XEQ-Implantat auftun. Und schau einmal, die Absatzmärkte betreffen ja nicht nur Chirurgen. Wir können auch die besten Musiker erschaffen, wenn wir das motorische Geschick von Pianisten, Violinisten, Flötisten und Trompetern in den XEQ-Chip einspielen. Jeder Beruf, der motorisches Geschick verlangt, wird von unserer Technik profitieren.“ – Ich schaue Laura an. Ich setze hinzu: „Habe keine Angst. Vertraue. Und gern kannst du auch für die Sache beten.“
– Laura antwortet nichts darauf. Sie schaut mich nur lange an und wendet ihren Blick dann ab. Schließlich treffen wir bei den Wasserfällen ein. Der Wind treibt Tropfen des Wasserfalls zu uns. Ich ziehe meine Schuhe und Socken aus, setze mich auf einen Stein und lasse meine Füße in den brausenden Fluss baumeln. An dem warmen Frühlingstag tut das kühle Wasser gut, das meine Beine umfließt.
Ich sehe, dass Laura noch immer intensiv nachdenkt. Sie bleibt schweigsam. Und ich auch. Was könnte ich noch sagen?
Nachdem die beiden Mitarbeiterinnen des Sicherheitsdienstes den Mann wieder vom OP-Tisch in sein Krankenbett gelegt hatten, schoben sie das Bett über den Flur zurück in das Krankenzimmer. Der Verband über dem Halskatheter war nach der Desinfektion im Operationssaal braun verfärbt.
„Ich mache den Verband eben frisch“, sagte Jane, die ältere der beiden Frauen des Sicherheitsdienstes. Die kräftige Afroamerikanerin hatte einmal Medizin studiert. An der University of California. Sie kam damals bis ans Ende der preclinical studies. Dann wurde sie schwanger und brach das Studium ab. Später machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Das Gehalt war unterdurchschnittlich. Da vermittelte ihr ehemaliger Anatomieprofessor ein Angebot von Biohysical Implants, das sie nicht ausschlagen konnte. Ihre ursprüngliche Idee war, in der Anatomie ihre Doktorarbeit zu schreiben. Den Kontakt zu ihrem Professor hatte sie über all die Jahre hinweg aufrechterhalten. Mit der Stelle bei Biophysical Implants verbesserte sich ihre finanzielle Situation schlagartig. Vor dem Antritt ihrer eigentlichen Tätigkeit bekam sie noch eine Ausbildung, um den Anforderungen an eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes gewachsen zu sein. Sie lernte sowohl Praktiken der Selbstverteidigung als auch des Angriffs. Schießübungen mit einer Waffe musste sie auch absolvieren. Ungern. Aber es gehörte nun einmal dazu. Während der Ausbildung erhielt sie bereits das volle Gehalt. Wegen ihrer Doppelqualifikation als Krankenschwester und Sicherheitsmitarbeiterin war sie im Betrieb sehr geschätzt. Auch ihre anatomischen Kenntnisse waren seit dem Studium exzellent.
Während sie den Verband am Hals wechselte, bemerkte sie kurz: „Als sich der OP-Springer vor uns aufbaute, dachte ich schon, dass es jetzt gleich losgeht. Er hat zwar eine Statur wie ein Schrank. Aber bei einem Kampf hätte er alt ausgesehen. Ohne Kampftechnik ist er chancenlos gegen mich.“ – Julia, ihre Kollegin, nickte ihr zustimmend zu. – „So, jetzt sieht er wieder gut aus“, sagte Jane und räumte das unverbrauchte Verbandsmaterial zurück in den Rollwagen.
„Hängen wir die Elektroden für das EEG wieder an?“, fragte Julia.
„Die Ärzte haben dazu nichts gesagt. Wir hängen sie an. Ein Fehler ist es nicht.“
Rasch zogen die beiden Frauen die Haube des EEG mit den Elektroden wieder über den Kopf des Mannes. Jane schaltete den Monitor ein. – „Theta-Wellen“, bemerkte sie lakonisch.
„Diese Wellen sind nur bei Kleinkindern normal“, ergänzte Julia. Sie hatte sich das genau eingeprägt.
„Richtig“, gab Jane zurück.
„Deep Dream?“, ergänzte Julia.
„Deep Dream“, bestätigte Jane, „er träumt, dass er wach ist.“
Die beiden Frauen waren schon dabei, das Licht zu löschen und das Krankenzimmer zu verlassen, da hörten sie plötzlich und unerwartet jemanden sprechen: „Vorbei?“– Erschrocken drehten sich Jane und Julia um.
„Ist das der Mann?“, fragte Julia.
Jane legte ihren Zeigefinger auf ihren Mund, um Julia anzuzeigen, dass sie still sein sollte. Sie sahen, wie sich die Lippen des Mannes bewegten. Er murmelte unverständliche Silben. Dann der Satz: „Ist es vorbei?“
– Jane hatte einmal auf dem Land gesehen, wie ein Hahn geköpft wurde. Ohne Kopf flog er noch davon. Dieser Mann hier erinnerte Jane an jenen Hahn. – „Wir müssen Michael benachrichtigen.“ – Jane griff zum Haustelefon: „Er spricht.“
Mein Traum weckt mich wieder auf. Es ist dunkel. Und sehr still. Ich setze mich im Zelt auf. Ich suche die Taschenlampe, aber ich finde sie nicht, um meine Uhr abzulesen. Ich wette, es ist wieder 4.00 Uhr morgens.
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