„Ich rufe jetzt John an. Kannst du mir die Nummer von seinem Mobiltelefon geben?“, bittet Tim.
Ich nehme mein Mobiltelefon aus meiner Handtasche und rufe Johns Nummer ab. Tim ruft ihn an. Er erreicht ihn: „Kann ich heute Abend mit dir sprechen? Es ist wichtig … Über deine Arbeit … Ja, mit deiner Frau habe ich schon gesprochen … Das hat mit der Kirche nichts zu tun? Aber mit dir und Laura hat es etwas zu tun. Ich möchte deine Frau in dieser Zeit unterstützen. Und dich auch, wenn du es möchtest … Ja, ich weiß, dass eine schwierige Operation bei dir ansteht … Du weißt nicht, was das bringen soll? Lass uns einfach offen miteinander sprechen, und lass uns schauen, in welche Richtung das Gespräch geht … Im Supermarkt bist du? Wann bist du wieder zuhause? … In einer Viertelstunde? OK. Dann bin ich in einer Viertelstunde bei dir. Danke. Bis gleich.“ – Tim wendet sich mir wieder zu: „Er ist zumindest zu einem Gespräch bereit.“
– Jetzt kehrt eine kleine Pause in unserer Unterhaltung ein. Da fällt mir mein Traum ein. – „Ich träume seit drei Tagen immer ganz intensiv einen Traum. Ich stehe in einem Wasserstrom. In der ersten Nacht ging der Strom bis zu meinen Knöcheln. In der zweiten bis zu meinen Knien. Im letzten Traum ging das Wasser bis zu meiner Hüfte.“
„Woher kommt denn das Wasser? Hast du die Quelle gesehen?“, fragt Tim in seiner typischen Art, einer Sache auf den Grund zu gehen.
„Es kommt aus einer Wand. In einem Haus.“
„Gibt es noch ein Detail, an das du dich erinnerst?“ – Tim schaut mir direkt in die Augen.
„Nein. Das ist alles.“
„Laura, ich bin mir noch nicht im Klaren, in welche Richtung der Traum geht. Lass es mich wissen, wenn du wieder diesen Traum hattest.“ – Pastor Tim schaut auf seine Uhr: „Bleibst du bei Sarah?“, fragt er mich, „ich möchte mit John gerne allein sprechen.“
„Ja. Ich bleibe hier.“
„Dann betet ihr zwei, während ich mit John spreche. Wir müssen jetzt alle Hebel bewegen. Dazu gehört auch das Gebet.“
„Ja, Pastor Tim“, antwortet Sarah sofort, und ich nicke dankbar.
Ich bin aufgeregt. Wie wird das Gespräch wohl werden?
„Jetzt rufe ich erst einmal meinen Co-Pastor an, dass der meinen Termin in der Kirche heute Abend übernimmt…“, brummelt Tim vor sich hin, als er das Haus verlässt, um zu John hinüber zu gehen.
Tim steht bereits vor unserer Haustür, als ich vom Supermarkt heimkehre. Ich steige schon einmal aus dem Chrysler aus und lasse den Wagen einparken. Passt mir ja gar nicht! Alles lief heute so gut. Und jetzt hat Laura wieder irgendwas ausgeplaudert. Ich hatte ihr doch ausdrücklich gesagt, dass sie die Sache vertraulich behandeln muss. Ich ärgere mich. Mein Magen meldet sich wieder. Ich werde ein Stück Brot essen müssen. Michael darf nicht erfahren, dass ich Laura etwas gesagt habe. Jetzt muss ich doppelt dicht halten.
„Hallo John.“ – Tim nickt mir zu.
„Ja. Hallo“, grüße ich verhalten zurück.
Wir betreten unser Haus und gehen an den Esstisch in der Küche.
Tim kommt sofort aufs Thema: „John, hast du schon einmal darüber nachgedacht, ob das nicht vielleicht doch etwas riskant ist, was dein Arbeitgeber mit dir da plant?“
„Ich sehe die Chancen.“
„Niemand kann dir sagen, was bei der Sache rauskommen wird. Ein Eingriff in den Körper ist immer auch ein Eingriff in die Psyche, besonders wenn ein neuronales Implantat eingepflanzt wird. Vom Tor zum Bewusstsein hast du Laura gegenüber gesprochen? Welche Wirkung wird die künstliche Intelligenz des Implantats auf deinen Körper haben?“
„Neuronale Prothesen wie das Cochlea- und Opticus-Implantat sind ein großer Segen für die Menschen. Wie kannst du nur so rückständig sein? Ich bin dabei, einen großen Schritt voran zu tun.“ – Das Gespräch verärgert mich. Ich gehe zum Schrank und schneide mir eine Scheibe trockenes Brot ab und beiße hinein.
Tim gibt immer noch keine Ruhe, er setzt neu an: „Ja, aber wie ich das verstehe, geht es bei diesem Implantat nicht mehr um einen Ersatz einer körpereigenen Funktion. Es geht um eine Verschmelzung von Mensch und Maschine, was bewusstseinserweiternd wirkt. Da ist ja gar nicht absehbar, was dann passiert. Wer auf Drogen ist, erlebt auch eine Bewusstseinserweiterung…“
– Auf Drogen? Unwillkürlich denke ich an die Vital Kick-Geschichte. Adrenalin schießt ein. Die Christen der Kirche waren damals schwerer zu ertragen als der Entzug nach dem Vital Kick-Trip. Das nervt jetzt. Ich kaue auf dem Brot, als ich Tim antworte: „Ich brauche nicht den Segen der Kirche für mein Projekt. Alle Pioniere haben immer auch Risiken in Kauf nehmen müssen. Denke an Alan Shepard.“
„Hier geht es aber nicht nur um ein Risiko, wie bei einem ersten Weltraumflug. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie du dich charakterlich verändern wirst? Das steht jetzt schon fest. Willst du eine andere Person werden, die wir nicht mehr wiedererkennen?“
„Stopp! Pastor Tim, hier endet unser Gespräch. Ich lasse mir von dir nicht reinreden, wie ich meinen Beruf ausübe. Das ist meine Privatsache. Das hat mit der Kirche nichts zu tun. Du überschreitest deine Kompetenzen.“ – Ich wende mich ab.
„John, ich bedaure, dass du das so siehst. Tue bitte Laura nicht weh. Sie hat große Sorge um dich.“
Ich lege die angebissene Brotscheibe zur Seite und begleite Tim unsanft zur Haustür. Ich habe keinen weiteren Gesprächsbedarf mehr: „Ich habe meinen Weg schon eingeschlagen. Alles Gute.“
Tim sagt nichts. Er geht.
– Und ich muss auf die Toilette.
Stephen war mit seiner OP-Schwester und seinem OP-Springer zurück nach New York gereist, ohne sich noch einmal von Michael zu verabschieden. Zu heftig war die Auseinandersetzung im Operationssaal.
Michael drehte gedankenversunken seinen Bleistift in der Hand. Dem Direktor von Biophysical Implants müsste er jetzt einen schriftlichen Bericht vorlegen. Und er müsste Zac eine Einschätzung über die Risiken vor einer neuerlichen XEQ-Implantation abgeben. Zac war von Haus aus Anatom. Für alle Vorarbeiten war das bislang recht hilfreich. Aber Michael wäre es jetzt doch lieber gewesen, wenn Zac ein Ingenieur gewesen wäre. Manche Ärzte leisteten sich immer wieder mal so etwas wie eine Ethik. Der Direktor von Biophysical Implants auch. Das war jetzt eher hinderlich. Was sollte Michael zu Papier bringen? Er legte den Bleistift wieder weg. Diese Sache erledigte er besser in einem persönlichen Gespräch.
Bevor er zum Telefon greifen konnte, um Zac anzurufen, klingelte es. Jane war am Apparat: „Sie sollten einmal vorbeikommen. Es gibt Neues von unserem Patienten.“
„Was gibt es denn?“ – Der Anruf kam für Michael denkbar ungelegen.
„Das sollten sie sich lieber selbst ansehen“, antwortete Janes Stimme über die Telefonleitung.
Genervt warf Michael den Hörer wieder auf die Gabel des Telefons. Er wusste, dass Jane gut war. Wenn sie sagte, er sollte kommen, dann lag wirklich etwas Schwerwiegendes an. Das konnte er in diesem Moment gar nicht gebrauchen. Doch wenn er nicht gehen würde, um sich ein Bild zu machen, dann könnte sich die ganze Sache ohne ihn verselbständigen. Das durfte auf keinen Fall passieren. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste rüber in Block K, wo der OP-Trakt und die kleine Krankenstation beherbergt waren. Er ging. Sofort.
Als er das Zimmer betrat, sah er, dass sich der Patient aufgesetzt hatte. Er sprach scheinbar zusammenhanglose Dinge. Und er bewegte die Hände vor seinem Gesicht. Immer wieder schlug er mit seinen Armen aus – so wie ein Mann, der Mücken an einem warmen Sommerabend vertreibt. Jane und Julia waren schon ein Stück vom Krankenbett zurückgetreten, um nicht noch unfreiwillig eine Ohrfeige oder einen Schlag ins Gesicht einzufangen. Der Mann hatte seinen Kopf aufwärts gewandt: „Weg. Weg!“ – Dabei war sein Blick starr ins Leere gerichtet.
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