Ich selbst hatte einen ganz anderen Zugang zum Glauben. Immer wieder berichte ich John begeistert von Pastor Tim und unserer Kirche. Aber das berührt ihn gar nicht. Ich wünsche mir so sehr, dass John seine Ablehnung aufgibt und wieder gute Erfahrungen mit Jesus macht. Schon so oft habe ich dafür gebetet. Einmal habe ich Pastor Tim gesagt: „Nichts ist bisher mit John passiert.“ – „Halt. Sage das nicht. Du hast vielleicht nichts bemerkt. Aber was sich schon in der unsichtbaren Welt seit deinen Gebeten abgespielt hat, kannst du nicht wissen. Manchmal wird der Engel des Herrn aufgehalten und kann nicht so schnell wirken, wie wir uns das wünschen“, hatte mich Tim ermahnt und ermutigt.
Ich trinke meinen Kaffee. Ich schaue nach draußen. Schon zeigt sich am Himmel über der Bucht die Dämmerung von Osten her. Der Tag kündigt sich in tiefroten Tönen an. Ich wünsche mir so sehr, mit John Zeit zu haben und noch einmal ganz in Ruhe über die Implantat-Geschichte zu sprechen. Wieder schaue ich nach draußen. Ein orangener Saum steigt im Osten auf. Die Sonne wird auch heute aufgehen. Vielleicht sollte ich eine Woche Urlaub nehmen. Wenn ich Urlaub brauche, dann jetzt.
Es geht mir heute Morgen noch immer nicht besser. Ich fühle mich komplett verkatert. Aus meinem Appartement schaue ich in Richtung Bucht und sehe die Skyline. Ich werde Michael um ein Schmerzmittel bitten müssen. Ich esse noch ein Stück trockenes Brot. Mein Mund fühlt sich trocken an. Wieder hatte ich Durchfall. Ich muss trinken. Da entdecke ich einen kleinen Medikamentenschrank in der Küche. Nurofen. Lange bewährt. Ich nehme gleich zwei Tabletten ein. Ich setze mich nochmals auf einen Sessel im großzügigen Wohnraum. Man soll ja eine halbe Stunde Ruhe halten, wenn man Tabletten genommen hat. Außerdem hämmert mein Kopf ohnehin bei jeder Bewegung. Ich schließe meine Augen und reibe mit der rechten Hand über die Augenlider. Ich denke an Laura. Das Stillsitzen tut mir gut. Und allmählich gehen tatsächlich die Kopfschmerzen vorbei. Es geht besser. Ich stecke die Medikamentenschachtel mit dem Nurofen in meine Manteltasche. Dann gehe ich hinüber zum Diagnosezentrum. Michael ist schon da. Dabei ist es erst 7.00 Uhr. Manchmal denke ich, er schläft nie.
„Du bekommst bis einschließlich Donnerstag Urlaub“, ruft mir der Radiologe heiter schon beim Betreten des Kontrollraums vor dem Tomographen zu, „wir haben jetzt alle Daten. Es ist perfekt.“
„Du, Michael, wie kann ich das verstehen, dass der andere Arzt gestern sagte ‚Bei ihm muss das Implantat perfekt passen.‘?“
„Es ist doch klar, dass das neuronale Implantat perfekt passen muss. Mache dir keine Gedanken“, beschwichtigt Michael.
Schnell bin ich überzeugt. „Das heißt, ich kann jetzt gehen?“, versichere ich mich.
„Ja, auf, mach dich auf den Weg. Zwei freie Tage. Das hattest du zuletzt zu Weihnachten. Mach‘ etwas draus, genieß‘ die Zeit!“
„OK. Dann nehme ich jetzt die Fähre zurück aufs Festland.“ Ich verabschiede mich und gehe. Schleuse. Fähre. Fisherman’s Wharf. Wenn ich schnell genug bin, dann treffe ich Laura noch zuhause an, bevor sie zur Arbeit geht. Mein Chrysler fährt mich sicher und schnell nach Sausalito. Laura wird sich über zwei freie Tage freuen. Vielleicht kann sie sich ja auch kurzfristig freinehmen.
Ich entdecke Laura in der Küche. Sie freut sich, als ich sage, dass ich frei bekommen habe und denkt gleich laut nach: „Shannon wollte diese Woche ursprünglich Urlaub nehmen. Dann kam bei ihr etwas dazwischen. Jetzt ist sie diese Woche doch da. Und ich könnte mir frei nehmen. Shannon kann meine Arbeit auch tun. Jack wird das so ohnehin viel lieber sein.“
„Laura, ruf doch einfach deinen Chef an. Es ist jetzt 8.00 Uhr. Vielleicht triffst du ihn schon an.“
„Ganz sicher. Er ist morgens immer der Erste im Haus. Er fängt deutlich früher an als ich.“ – Laura greift zum Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Esstisch liegt. – Gleich hat sie ihn am Apparat: „Hi, Jack, guten Morgen. Wäre es OK, wenn ich mir diese Woche frei nehme? … Ja. Shannon ist da … OK. Danke.“ – Sie beendet das Gespräch. Mit einem Lächeln legt sie das Mobiltelefon wieder auf den Tisch. Dann steht sie auf und umarmt mich lange. Ich genieße ihre sanfte Wärme und ihr duftendes Haar.
– „Ich liebe dich so sehr. Du weißt gar nicht, wie sehr, John.“
Ich tippe sanft auf ihre Stirn und gebe lächelnd zurück: „Doch. Das weiß ich. So sehr. Und ich liebe dich auch.“ – Es ist ein wundervoller Moment.
„Was hältst du davon, wir fahren raus in die Natur?“, fragt mich Laura vergnügt.
„Wäre perfekt.“
„Zum Yosemite-Nationalpark?“, schlägt sie vor.
„Yosemite? Phantastische Idee. Da waren wir schon so lange nicht mehr.“
„OK, ich packe sofort Kleidung und Proviant. Bringst du das Zelt und die Schlafsäcke in den Wagen?“
„Klar.“
– Schnell ist unser Automobil bepackt. Der Chrysler nimmt den Weg über die Brücke des Golden Gate, er fährt uns quer durch San Francisco und überquert die Oaklandbridge. Wir halten wie frisch verliebt unsere Hände, als uns der Wagen viele Meilen an dem riesigen Windkraftpark vorbeiführt. Wir lassen ihn erst nach einer halben Stunde hinter uns. Weitläufige Plantagen mit Obstbäumen grenzen von links und rechts an den Highway. Nach den Plantagen folgt eine Landschaft mit karger Vegetation, gelben Feldern, kaum einem Baum, hier und da einem Strauch. Unser Chrysler entscheidet, nun Strom zu tanken. Mein Kopfschmerz meldet sich zurück. Ich sage nichts zu Laura. Ich will nicht, dass sie sich beunruhigt. Aber die Tankpause kommt mir gerade recht. Im Kofferraum suche ich nach meinem Mantel mit dem Nurofen, während unser Fahrzeug über der Kontaktschleife binnen Sekunden auftankt. Nein. Ich habe den Mantel zuhause liegen lassen. Kein Problem. Ich gehe zum Zahlen ins Geschäft. Sie haben Nurofen. Ich kaufe eine große Packung. Sofort nehme ich zwei Tabletten im Laden. Laura soll nichts merken. Dann gehe ich kurz auf die Kundentoilette. Durchfall. Wieder. Ich kehre zu Laura zurück.
– „Alles OK?“
„Alles OK“, erwidere ich. Wir fahren weiter. Nach insgesamt vier Stunden Fahrzeit mündet unsere Straße in einem dichten Wald. Yosemite steht auf einer Tafel am Eingang zum Nationalpark. Meine Kopfschmerzen habe ich mit dem Nurofen gut im Griff. „Ich übernehme“, teile ich dem Bordcomputer mit. – „Sie übernehmen“, bestätigt das System und gibt mir die Steuerung frei, nachdem Lenkrad, Gas- und Bremspedal ausgefahren sind. Ich fahre uns durch das Yosemite Valley.
„Hier ist es einfach total wunderschön“, schwärmt Laura, „lass uns anhalten.“
Ein Gebirgsfluss geht durch das Valley. Wir steigen aus und lassen den Wagen einparken. Durch die Klimaanlage haben wir nicht bemerkt, wie warm es heute ist.
„Ja, es ist herrlich heute“, gebe ich zurück. Neben einer Brücke stehen drei Umkleidekabinen. Spontan öffne ich unsere Reisetasche und greife nach den Badesachen: „Ich gehe baden!“
Laura lacht mich ausgelassen an. – Während ich meine Badehose anziehe und dann zum Fluss renne, macht Laura mit ihrem Mobiltelefon ein paar Fotos von mir und feuert mich an. Ich merke sofort, dass das Wasser sehr kalt ist und wie Nadelstiche schmerzt. Ein paar Züge schwimme ich durch den Fluss. Dann kehre ich schnell zum Ufer zurück. Doch ich fühle mich beim Verlassen des Wassers herrlich erfrischt.
Laura bringt mir schon das Badetuch: „Wollen wir noch ein Stück mit dem Auto fahren und dann unser Zelt aufschlagen?“
„Ja, das ist eine gute Idee. Ich trockne mich nur ab und zieh mich wieder um.“
Wir fahren an das Ende des Valleys. Ich hole das Zelt aus dem Kofferraum. Es entfaltet sich selbständig und steht in einer Minute fertig da. Ich finde, dass das immer total spannend aussieht, wie die kleinen Motoren die Heringe des Zeltes automatisch in den Boden treiben und der Anteil, der aus der Erde schaut, kontinuierlich kürzer wird. Nach dem Schauspiel des Zeltaufbaus hole ich den Rucksack mit dem Proviant, befestige an ihm einen Karabinerhaken und ziehe ihn mit einem Seil zur Spitze eines der vielen Holzmasten, die hier stehen, hoch. – „Nur für den Fall, dass heute Bären unterwegs sind“, bemerke ich kurz und zwinkere Laura zu.
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