Ihr wurde klar, dass sie noch mal in den Wald musste, um die Umgebung zu untersuchen und Restspuren zu sichern. Das war gestern aufgrund der Dunkelheit und des Regens fast unmöglich gewesen. Ärgerlich. Sie hatte sich auf einen Tag innerhalb der Dienststelle gefreut und fühlte sich in ihrem Kostüm mit den hochhackigen Schuhen richtig wohl. Das würde heute nicht lange ihre Dienstkleidung bleiben....
Barbara Groß saß blass mit rotgeränderten Augen in ihrem Zimmer. Sie bestätigte das, was Matthias Kannenheim gesagt hatte. Sie wusste auch den Nachnamen von Clemens: Berger. Ebenfalls konnte sie der Kommissarin sagen, wo er wohnte und dass er eine geschiedene Frau und eine Tochter hatte, sodass sie endlich jemanden benachrichtigen konnten.
„Gut zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht“ sagte Günnur zu ihr. „Sie waren ja gestern mächtig mitgenommen.“
Barbaras Unterlippe zitterte. „Ja, ich..., also ich und Clemens, wir waren mal für kurze Zeit ein Paar...“ Sie zog die Luft ein. „Aber es war Schluss zwischen uns. Trotzdem...“ sie konnte nicht weiterreden.
„Jetzt beruhigen Sie sich, kommen Sie wieder zu sich und gehen Sie erst mal nach Hause. Ich habe ja Ihre Adresse und wenn noch Nachfragen sind, werde ich mich an Sie wenden, ja?“ sagte Günnur beruhigend. Barbara nickte und sah der attraktiven jungen Kommissarin hinterher, als sie aus der Tür ging. Sie war sich sicher, dass sie ihr Vieles, was sie erlebt hatte, niemals sagen durfte. Sie hoffte inständig, dass das niemand je erfahren würde. Es würde sie in den Kreis der Hochverdächtigen bringen und das durfte nicht passieren – zumal sie ja wirklich unschuldig war. Aber bei dem, was in der Beziehung mit Clemens vorgefallen war, würde sie jetzt mit einem oder beiden Beinen im Gefängnis sein.
Nach dem Neujahrs-Cacherevent im letzten Januar waren sie in seiner Wohnung gelandet. Sie fand ihn attraktiv und amüsant. Schnellen Abenteuern war sie nicht abgeneigt und er schien Gleiches spannend zu finden. Ihr Sex war kurz und heftig und hatte beiden Lust auf mehr gemacht, sodass sie eine recht atemberaubende Nacht bei ihm verbrachte. Er lebte allein in einer großen Penthousewohnung mit Blick über die Altstadt, war geschieden und hatte eine erwachsene Tochter. Der Altersunterschied zwischen ihnen störte Barbara nicht, im Gegenteil. Sie fühlte sich auf der einen Seite väterlich geborgen, auf der anderen Seite zog sie seine so ganz andere Körperlichkeit als die der jüngeren Männer an. Außerdem war er extrem zuvorkommend, höflich, ein Kavalier der „alten Schule“, der Frauen verwöhnte. Das zeigte er am nächsten Morgen mit einem opulenten Frühstück. „Zum Glück habe ich heute keinen Außentermin“ sagte er nach dem Frühstück, zog ihr den Morgenmantel von den Schultern und sie mit in die Badewanne, in die er ohne dass sie es bemerkte das Badewasser eingelassen hatte. Er wusste in allen Lebensbereichen genau, was Frauen wollten und sie genoss es in den nächsten Wochen in vollen Zügen. Er lud sie zu teuren Essen ein, zu denen er sie in seinem Cabrio chauffierte und spendierte der „armen Studentin“, wie er sie liebevoll nannte, neue Markenklamotten, die er ihr nach dem Shopping im Schlafzimmer dann wieder langsam vom Leib zog. Sie verbrachten ein verlängertes Wochenende in einem Luxushotel in der brandenburgischen Einsamkeit, in dem sie nur zum Essen das Hotelzimmer verließen.
In dieser Zeit hatte sie recht wenig mit Matthias gecacht. Clemens hatte fast alle FTFs bekommen. Matthias fragte nicht groß nach, er hatte selbst manchmal Phasen in seinem Studium, in denen er wenig Zeit hatte.
Obwohl sie es nicht wollte, war Barbara kurz davor, sich richtig in Clemens zu verlieben. Sie war gegen jede Form emotionaler Bindung. Aber er schaffte es, mit seinem Charme, seiner Attraktivität und seiner Großzügigkeit ihr Herz zu erobern.
Was er sich wohl zu ihrem Geburtstag ausgedacht hatte? Sie hatte ihm gesagt, wie wichtig ihr Geburtstag für sie war und freute sich schon auf diverse Überraschungen von seiner Seite. Sie hatte extra ihre Freundinnen und Freunde zu einer Wochenendparty eingeladen, um am Tag selbst Zeit für Clemens zu haben. Morgens stand er mit einem Riesenblumenstrauß vor der Tür und sagte bedauernd: „Tut mir Leid, ich muss den ganzen Tag arbeiten!“ Weg war er. Barbara heulte und tat sich den ganzen Tag selber Leid – bis er spätabends wieder vor der Tür stand. Sie war unbeschreiblich glücklich und ließ sich im Bett die Augen von ihm verbinden. „Warte auf meine Überraschung!“ flüsterte er ihr ins Ohr. Das, was dann kam, hatte sie so gut wie aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Es war der bisher schmerzhafteste, brutalste Sex, den sie je gehabt hatte. Als es endlich vorbei war, sie von ihm abgewandt lag und er sie beruhigend streicheln wollte, schlug sie nach ihm. Er war wieder ganz der Alte und versuchte, sie mit betörenden Worten und Entschuldigungen einzulullen, bis sie erschöpft einschlief.
Seit ihrer Geburtstagsnacht hatte sie Angst vor ihm. Er konnte nach wie vor der alte Kavalier und Liebhaber sein, aber das Dämonische in ihm nahm zu. Er erniedrigte sie mit Worten wie „Ach, du bist doch nur eine kleine Studentin!“ oder „Du weißt ja gar nicht zu schätzen, was du an mir hast!“ und schien sich an ihrer Verletztheit zu weiden. Immer härter wurden auch seine Sexpraktiken. Das Schlimme war, dass er völlig unberechenbar war. Manchmal hatten sie ihren alten Sex, den sie so liebte, manchmal fühlte sie sich ihm nur hilflos ausgeliefert und auch hier hatte sie den Eindruck, dass er es genoss, sie zu erniedrigen.
„Mir reicht das jetzt“ schrie sie ihn eines Nachts in seiner Wohnung aus vollem Hals an. Er schaute sie mit flackerndem Blick an und schlug ihr hart ins Gesicht. Barbara versuchte sich zu wehren, aber er war stärker und schlug und trat sie überall. Sie versuchte sich ihm zu entziehen, hatte aber keine Chance und er schlug wieder und wieder zu. Als sie wimmernd auf dem Boden lag, brüllte er: „Und jetzt nimm deine Sachen, verpiss dich und lass dich hier nie wieder blicken! Du hast fünf Minuten, sonst schlag ich wieder zu! Und glaub ja nicht, dass du mich anzeigen kannst, du hast nichts in der Hand! Ich habe die besseren Anwälte, ich kenne die entscheidenden Leute in dieser Stadt, ich bin hier jemand und würde dich in Grund und Boden stampfen. Du bist ein Nichts!!!!“ In Panik versuchte sie sich so gut wie möglich anzuziehen, was bei ihrem völlig schmerzenden Körper nicht einfach war und schwankte schluchzend hinaus. In ihrer Wohnung zog sie sich wieder aus und sah, was er angerichtet hatte: Ihr Gesicht war zugeschwollen und am gesamten Körper hatte sie rote Flecken und Beulen, die garantiert grün, blau und lila werden würden. Gebrochen schien nichts zu sein.
Sie verbrachte die nächste Woche in ihrer Wohnung, schwänzte die Uni und hielt nur über Internet und Telefon zu ihren Freunden Kontakt. Die körperlichen Wunden verheilten zum Glück in diesen Tagen problemlos.
Das Schlimme war, dass Clemens Recht hatte. Sie konnte ihn nicht anzeigen. Sie hatte keine Chance, ja länger sie es hin und her drehte. Geschlagenen oder vergewaltigten Frauen wurde eh nicht geglaubt und das Verfahren würde sie nicht überstehen. Also ließ sie es bleiben und hatte diese riesige seelische Narbe in sich, die sie ab der unsagbaren Nacht allen Männern gegenüber misstrauisch bleiben ließ.
Gleichzeitig wuchs ihr Hass auf Clemens in Unermessliche. Was konnte sie nur tun, um es ihm heimzuzahlen? Ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Sie ging ihm aus dem Weg, hörte nur durch eine Kommilitonin, dass er eine Neue hatte – wieder eine Studentin. Woher er die nur immer so schnell kennen lernte? Sie tat ihr jetzt schon unendlich Leid. Ihr war klar, dass es höchstwahrscheinlich ähnlich mit ihr enden würde. Wie krank war dieser Mann, dass er seine Macht gegen Wehrlose so brutal psychisch und physisch ausspielen musste? Das Unglaubliche war, dass er zwei Seiten hatte: die wunderbare und die grauenvolle. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Sie recherchierte und lernte, dass es tatsächlich ein Krankheitsbild gab, das dem von Clemens entsprach: Er war ein Sadist, wie er im Lehrbuch stand.
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