Obwohl ihn das Objekt vor acht Monaten fast an den Rand seiner Möglichkeiten gebracht hatte. Da war doch tatsächlich fast nichts zu kritisieren gewesen. Ein paar Sachen hatte er dann doch gefunden, sodass die Bewertung schließlich noch mit „durchgefallen“ bewertet werden konnte. Alles Weitere war Routine.
Das gesamte Kollegium war dennoch ungeheuer sauer - sie hatten wohl nur mit Bestbewertungen gerechnet, hahaha – und er musste Einiges an bösen Bemerkungen einstecken, bevor er mit rechtlichen Schritten drohte. Dann war Ruhe und es liefen sogar Tränen, wahrscheinlich in dem Fall Wuttränen.
Den Kick bei der Arbeit gaben ihm vor allem die weinenden und verzweifelten Frauen, wenn er am Ende seines Arbeitsprozesses stand und das Ergebnis verkündete. Wie einfach er das erreichen konnte, wie er das brauchte und wie er das liebte – genauso wie die jungen Geliebten, die er in Massen verbrauchte und dann wieder aus seinem Leben stieß.
Schneisen der Vernichtung zu schlagen machten ihn besonders an. Sowohl beruflich als auch privat. Ihm konnte keiner was. Das hatte er oft genug in dienstlichen und privaten Verfahren bewiesen, die er allesamt gewonnen hatte. Ihm konnte keiner was und er konnte allen was.
Ja, sein Leben war perfekt und eine tolle Kombination aus Macht, Befriedigung, Gefahr und Geld.
Dieser FTF würde eine richtig gute Bewertung auf der geocaching-Internet-Seite durch ihn bekommen. Es hatte Spaß gemacht, die Rätsel zu lösen und bis hierher zu kommen. Sein Intellekt war richtig gefordert worden. So etwas mochte er besonders, entweder die körperliche oder die geistige Herausforderung. Am allerbesten war die Kombination von beidem und das versprach dieser Cache. Was er komisch fand, war, dass dieser Owner, also der Besitzer und Verstecker des Caches, ihm unbekannt war. Eigentlich waren ihm alle Owner der Umgebung geläufig – zumindest ihre Nicks, wie man die fantasievollen Namen, die man sich beim Geocachen gab, nannte. Der Owner, „ins2015“, hatte erst 36 Caches gefunden und noch keinen versteckt. Dafür war die Ausarbeitung wirklich professionell gelungen. Hut ab. Wahrscheinlich war es ein sogenannter „Sockenpuppenaccount“, also ein Zweitname bei geocaching, hinter dem sich ein bekannter Cacher aus was für Gründen auch immer verstecken wollte.
Er zog die Steigeisen über seine ebenfalls gletschertauglichen Bergstiefel, hängte sich einen Hammer und ein Seil um den Hals, nahm eine dicke Krampe in die Hand und schaute noch einmal fachmännisch den Baum hinauf. Keine Spuren zu sehen, aber das hieß nichts. Der Owner oder eventuelle Erstfinder konnten mit Hilfe einer Kletterausrüstung diesen Baum so erklommen haben, dass keine Spuren hinterlassen wurden, das war ihm klar. Er hatte da so seine eigenen Methoden. Ganz einfach würde es dennoch nicht werden, viel Hilfe bot diese Buche nicht. Egal, los, wer konnte wissen, ob ihm nicht weitere Cacher auf der Spur waren, also keine Zeit vergeuden. Am meisten Angst hatte er vor dem „Team Geohasen“, na ja, Angst war das falsche Wort, eher einen sportlich, konkurrierenden Druck, der ihn schon oft zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Mit Erfolg – die meisten FTFs hatte er!
Mit der Spitze voran rammte er sein rechtes Steigeisen in das Baumholz. Der Baum schien unter dieser Attacke zu ächzen. Das störte ihn allerdings nicht. Er hatte in seinem Leben noch nie viel Rücksicht auf andere genommen, seien es Menschen, Tiere oder Pflanzen gewesen. Da störten ihn auch die strengen Regeln des Geocachings nicht, die verlangten, dass man beim Cachen auf die Natur in besonderer Weise achten sollte. Ihm war das egal, Hauptsache, er kam zu seinem Cache.
Die Buche war so gesund und stand in ihrem Saft, dass er doch auf die Krampen zurückkommen musste und er rammte mit Hilfe seines Hammers die erste Krampe in das Baumholz. Der Baum schien zu vibrieren, bis er die Krampe festgeschlagen hatte und darauf zu stehen kam. Aus dieser Höhe konnte er sein Seil über den ersten Querast werfen, um dann mit Hilfe der Steigeisen den Stamm hochzuklettern. Er rammte weitere Wunden in den Baum und setzte sich leicht keuchend auf den Ast in ungefähr fünf Metern Höhe. Nach oben hin verjüngte sich der Baum, allerdings war der nächste stabil aussehende Querast erst weit über ihm zu sehen. Von hier aus hatte er bereits eine bessere Sicht nach oben in die Baumkrone, die um diese Jahreszeit sehr licht war und dadurch besser einsehbar. In der Mitte kamen mehrere Äste zusammen und bildeten etwas, das von unten aussah wie eine natürliche Mulde. Dort konnte der Final liegen, aber bis dahin war es noch eine Strecke von wieder ungefähr drei Metern in die Höhe.
Er schlug eine weitere Krampe in den Stamm hinein, kletterte hoch und zog sich an einem kleineren Ast weiter. Wieder konnte er das Seil über den stabilen Ast werfen, um dann den Stamm mit den Steigeisen weiter zu verletzen und hochzuklettern. Er prüfte den Ast auf Standfestigkeit für seine durchtrainierten 80 Kilo und zog sich hoch. Jetzt lag die Baumkrone noch knapp über drei Meter über ihm und machte einen einladenden Eindruck. Das konnte man ohne Seil schaffen. Er schlug eine letzte Krampe in den Ast, stellte sich hinauf und stemmte sich höher, um sich auf einen kleinen Ast zu stellen. Jetzt lag die Baumkrone fast zum Greifen nah vor ihm und er konnte aus den Augenwinkeln die Ecke einer dunkelgrünen Kiste erspähen. Glücksgefühle durchwallten ihn, er hatte also wieder mal die richtige Spur gefunden. Einen letzten Schritt musste er auf einen abgestorbenen Querast setzten, dann konnte er nach dem Ast greifen, der zur Krone gehörte und sich daran hochziehen. Er legte alle Energie in das Greifen und verlegte seine ganze Kraft in die Arme.
Was war das?
Es war glitschig.
Seine Hände rutschten ab, warum auch immer.
In Zehntelsekundenschnelle verlor er die Kontrolle über seine Hände und seinen Körper.
Während er krachend auf den unteren Ast fiel, durchzuckte ihn sein letzter Gedanke: „Nicht gehoben.....“
21. November, Spätnachmittag
„Team Geohasen“ keuchte in leichtem Regen durch den Wald. Die letzten beiden Stationen hatten sie wirklich gefordert. Für eine Station mussten sie Hunderte von Metern weit durch den Wald stapfen, bergauf und bergab. Die letzte Station vor dem Final lag unter Wasser hüfttief in einem Bach. Sie hatten so was schon befürchtet, daher hatte Matthias seine Wathose im Rucksack mitgenommen. Seine Hände und Füße waren immer noch eiskalt vom Bachwasser. Aber immerhin hatte der Hinweis in dem wasserdichten Döschen sie nach einigem Hin- und Herüberlegen und Internetrecherchen zum Final geführt. Barbara seufzte. Schon wieder einen Hügel hoch durch eine Lärchenschonung. Sie waren schon den gesamten Nachmittag unterwegs gewesen und langsam fing es an zu dämmern. Sie mochte es nicht sonderlich, während der Dunkelheit im Wald zu zweit abseits von jeglicher Zivilisation unterwegs zu sein. Aber das würde sie Matthias nie eingestehen. Immerhin war sie nicht allein und mit Matthias im Team hatten sie schon so manchen Fund im Wald bei Nacht gehoben. Der Kick nach dem FTF war bei ihr dann doch einfach zu groß. Sie mochte diese Wettrennen um den FTF. Mit Matthias als „Team Geohasen“ war es einfach gut und sie hatte sich noch nie gefährdet gefühlt.
„Arschkalte Flossen trotz Taschenofen“, sagte Matthias. „Nimm du mal das GPS!“ Barbara schaute auf die Anzeige. Noch 350 Meter. Sie liefen auf einen Mischwald zu, der sich an die Lärchenschonung anschloss. Noch 150 Meter. Es wurde dunkler. Die eng stehenden Bäume verschluckten das eh schon weniger werdende Dämmerungslicht. „Rechts lang, Matthias“ sagte Barbara. Noch 60 Meter. „Wart mal...“ sagte sie zu ihm. Irgendwas stimmte nicht. Schräg vor ihr sah sie im letzten Licht etwas Großes, Rotes auf dem Boden liegen. „Matthias, was ist das?“ sagte sie. Das GPS zeigte genau in die Richtung des Roten. „Wahrscheinlich das Final“, gluckste der, „ist wohl ein Zelt oder ein Schlafsack oder eine halb eingegrabene rote Munitionskiste“. Sie stapften weiter und versuchten, mit den Augen zu erkennen, was das war. „Oh Gott“, sagte Barbara, „ich glaub, da liegt wer!“ Als sie noch näher kamen, setzte ihr Verstand aus und sie schrie, schrie, schrie durch den einsamen Wald....
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