Das erleichterte sie seltsamerweise ein wenig. Es lag nicht an ihr, dass das Ganze so katastrophal geendet hatte. Sie neigte wie alle Frauen dazu, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Vielleicht sollte sie doch mal zu einer Psychologin gehen, um das Ganze zu verarbeiten? Aber so weit war sie noch nicht und stellte im Laufe der Monate erleichtert an sich fest, das sich ihr Leben und ihre Psyche zu normalisieren schienen. Nur eine Beziehung zu einem Mann war für sie momentan noch unmöglich. Schon gar kein „One-night-stand“. Sie nahm ihre alten Kontakte und Freundschaften neu auf, ging wieder öfter mit Matthias cachen und fand zu ihrer alten Fröhlichkeit zurück.
Matthias wusste nichts von ihrer Beziehung zu Clemens. Sie hatte nie mit ihm über ihre Männerbekanntschaften gesprochen und in dem Fall fand sie es ganz wichtig, ihn im Dunkeln zu lassen – immerhin war „bigC“ ja ihr direkter Konkurrent.
Sie trickste es jetzt absichtlich so, dass sie und Matthias etwas verzögert zu einem FTF aufbrachen, indem sie trödelte, was Matthias zu manchen bösen Bemerkungen hinriss, aber das war ihr egal, Hauptsache, sie trafen Clemens nicht beim Cache.
Glücklicherweise begegneten sie ihm nur einmal – da hatten sie den FTF gemacht. Clemens war wohl morgens arbeiten, es war bereits früher Nachmittag. Sie hatte das schon befürchtet und konnte sich zusammenreißen. Er war freundlich-locker wie immer. Sie schaffte es, ihn kaum anzusehen und redete so wenig wie möglich, sodass Matthias ihr Verhalten nicht als seltsam auffiel.
Und nun nach fast einem Jahr das. Als sie Clemens am Boden liegen sah, stürzte alles wieder auf sie ein und blubberte sekundenschnell wie ein Vulkanausbruch hoch. Alles, was er ihr angetan hatte, mischte sich mit ihrer Erleichterung, dass er tot war und gleichzeitig der Panik, dass jemand sie in Verdacht haben könnte, ihn ermordet zu haben. Sie wusste noch, dass sie geschrien hatte und Matthias ihr eine geknallt hatte. Danach hatte sie einen Filmriss – mitten im Wald. Sie wusste gar nicht mehr, dass die Polizei gekommen war und sie etwas gefragt hatte. Alles lag im Nebel. Sie erinnerte sich auch nicht, wie sie ins Krankenhaus gekommen war. Morgens war sie in einem Krankenhausbett aufgewacht und ließ sich alles erzählen. Glücklicherweise war sie jetzt ganz ruhig, man musste ihr wohl irgendwas gespritzt haben. Egal, Hauptsache, es ging ihr besser und sie konnte nach Hause.
22. November, etwas später
Günnur stand mit Torsten vor der Haustür von Eva Berger, der Exfrau des Toten. Sie hoffte, dass die um diese Uhrzeit zu Hause war. Eine zierliche dunkelhaarige sympatisch aussehende Frau Anfang 50 öffnete ihnen. Todesnachrichten an Angehörige zu überbringen war eine der schlimmsten Aufgaben ihres Berufs. Glücklicherweise waren sie durch ihr hervorragendes Polizeipsychologenteam geschult und konnten sich jederzeit an sie wenden, wenn es ihrer eigenen Seele zuviel wurde, mit dem Schmerz der Angehörigen umzugehen.
Das würde heute nicht unbedingt der Fall sein. Sie sagte ihr vorsichtig, dass ihr Exmann tot im Wald aufgefunden wurde und dass es wahrscheinlich ein Unfall beim Geocaching war. Eva Berger war sprachlos über das, was Günnur ihr mitteilen musste und setzte sich auf das Sofa, wo sie den Kopf in die Hände stützte. Sie seufzte schwer. „Frau Berger, können wir etwas für Sie tun?“ sagte Günnur mitfühlend und setzte sich neben sie.
„Nein, nein, schon in Ordnung,“ sagte sie und Tränen rollten ihr aus den Augen. „Er war mein Exmann und das nicht ohne Grund, aber dass er tot ist...“ sie holte schwer Luft. „... das schockt mich nun doch zutiefst. Aber es wundert mich nicht. Er war als Sportler immer schon risikobereit und das, was er über seine Cacher-Aktivitäten erzählt hat – ich hab mich immer schon gefragt, wann er sich da mal schwerer verletzt als ein paar Schrammen...“ Sie überlegte kurz und fragte: „Kann es Mord gewesen sein?“
„Wie kommen Sie auf diese Annahme?“ fragte Günnur zurück.
„Kann ich meine Tochter anrufen?“ sagte Eva Berger als Erwiderung. „Ich möchte, dass sie so schnell wie möglich herkommt.“
„Selbstverständlich!“ versicherte Günnur. „Das ist auch gut für Sie beide, dass Sie dann nicht alleine sind. Aber erzählen Sie ihr bitte nichts vom Tod ihres Vaters am Telefon.“
„Sie wohnt sowieso bei mir, sie studiert Jura hier an der Uni, es ist einfach günstiger, für mich, wenn sie hier wohnt, außerdem verstehen wir uns wirklich sehr gut“, erzählte Eva Berger, nachdem sie ihre Tochter Katharina erreicht hatte, die sofort aufbrechen wollte.
„Wir haben ungefähr eine halbe Stunde, bis sie hier ist, die möchte ich nutzen, um Ihnen einige Dinge zu erzählen, die Katharina nicht weiß oder die sie nicht hören soll“, sagte Eva Berger. „Bevor Sie es von anderer Seite erfahren oder lange rumrecherchieren, erzähle ich es Ihnen lieber selber. Dann ahnen Sie vielleicht, warum ich Sie gefragt habe, ob es auch Mord gewesen sein könnte.“
Günnur und Torsten setzten sich ebenfalls und sahen die Frau erwartungsvoll an.
„Ich bin seit 16 Jahren von meinem Mann geschieden.“ begann sie. „Es war die absolute Ehehölle, wie es schlimmer nicht hätte sein können. Vor 16 Jahren hätte ich wirklich Mordmotive haben können, so wie Clemens mich behandelt hat. Er hat mich während unserer siebenjährigen Ehe unzählige Male brutalstens vergewaltigt und geschlagen. Als ich von ihm so schlimm zugerichtet wurde, dass ich ins Krankenhaus musste, war es vorbei mit meiner Geduld. Ich musste auf mich und Katharina achtgeben. Die war damals sechs Jahre alt und es war schwierig genug, diese Szenen vor ihr zu verbergen.“
Sie holte tief Luft. „Aber die Scheidung war ebenfalls die Hölle. Er hat hier aus der Sportszene so viele Freunde, dass darunter auch der Staranwalt der Stadt war, der die Scheidung so gedreht hat, dass er völlig ungeschoren herauskam, trotz meiner körperlichen Blessuren. Auf gut deutsch gesagt,“ fuhr sie fort, „er musste noch nie etwas für mich zahlen. Für Katharina natürlich schon. Aber das war mir dann auch egal, Hauptsache, ich war geschieden. Als Rechtsanwältin verdiene ich genug, um selbst für mich und Katharina sorgen zu können.“
Günnur schaute Eva Berger an. War es möglich, dass sie auf der Buche nachgeholfen hatte? Sie schloss diesen Gedanken sofort aus. Wenn sie ihren Ex hätte umbringen wollen, hätte sie das schon eher getan und wahrscheinlich nicht an einem so risikoreichen Ort. Zudem schienen ihre Tränen und ihre Bestürzung echt zu sein – trotz ihrer leidvollen Erfahrungen. Manchmal konnte die Zeit zum Glück doch helfen, Wunden zu heilen, dachte sie.
„Was ich sagen will“, setzte Eva ihren Bericht fort, „durch verschiedene Quellen weiß ich, dass Clemens’ Liebesleben durchaus turbulent weitergegangen ist. Er hatte unzählige kürzere oder auch längere Beziehungen zu Frauen. Die waren eigentlich immer sehr viel jünger als er. Wir wurden geschieden, da waren wir beide Ende dreißig. Ich weiß nicht alles, aber alle Beziehungen, von denen ich wusste, auch meistens durch meine Tochter, waren Studentinnen oder auf jeden Fall junge Frauen so um die Zwanzig. Immer gutaussehend, immer jung, immer sportlich. Auf das Äußere hat er großen Wert gelegt, nicht nur bei sich selber, sondern eben auch bei seinen Geliebten. Was er hatte, war neben seinem guten Aussehen Charme und Geld. Mit Aussehen und Charme hat er mich damals rumgekriegt. So wird das auch mit seinen anderen Beziehungen gewesen sein. Und wenn er den jungen Mädchen dann noch ab und an eine Markenklamotte spendiert hat... Sie verstehen?“ sagte sie zu Günnur.
Die verstand natürlich, ebenso wie Torsten, der murmelte: „Frauen können echt naiv sein...“ Günnur musste innerlich grinsen, denn Torsten hatte mit seinem doch eher mittelmäßigen Aussehen und Einkommen einen einfach goldenen Charakter und war seit Jahren glücklich mit seiner Frau und seinen beiden Kindern.
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