Am liebsten hätte Blossom die Abgesandten begrüßt, doch es war ihr nicht erlaubt, bevor ihr Vater anwesend war. Sie schenkte ihnen aber ein Willkommenslächeln.
Sie ließ den Blick über die Gruppe gleiten. Wie gerne hätte sie sich unter die Soldaten gemischt und sich mit den Rittern über Kampftechniken und Bogenschießen unterhalten. Lady Agatha würde dies jedoch eindeutig missbilligen und ihr Vater noch viel mehr. Zur Strafe müsste sie womöglich hundert Seiten aus dem Buch über Etikette abschreiben, bis ihre Finger bluteten. Als wäre sie noch ein kleines Mädchen und nicht die zukünftige Königin von Frühling.
Der Zeremonienmeister war eingetreten, pochte dreimal mit seinem ziselierten Stab auf den Boden und verkündete mit lauter Stimme: »Seine Majestät König Brenin.«
Die hohen Türen zum Thronsaal wurden von zwei Dienern in gelber Livree geöffnet. Fanfaren ertönten aus dem Nichts und begleiteten den Einzug ihres Vaters, der hoheitsvoll, mit hoch erhobenem Haupt und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, den Saal entlangschritt. Links und rechts sanken die Herren in tiefe Verbeugungen und die anwesenden Damen in Knickse. Blossom war dieses ganze Spektakel zuwider. Ihr Vater dagegen zelebrierte es geradezu. Am liebsten hätte sie mit den Augen gerollt oder gelangweilt ihre Fingernägel betrachtet, doch sie ließ es sein und versuchte sich von ihrer besten Seite zu zeigen.
Als ihr Vater auf seinem mit Blattgold und Edelsteinen verzierten Thron Platz genommen hatte, stellte sich Blossom rechts hinter ihn und ließ den Blick über die Anwesenden gleiten. Faszinierend, wie andächtig die Menschen ihren König anschauten. Ehrfürchtig und erwartungsvoll. Bis auf einen. Einer der Ritter der Tulpenländer schaute stattdessen sie an, die Augenbrauen leicht zusammengezogen, als würde ihm etwas an ihr missfallen. Sie sah an sich hinab und entdeckte dreckverschmierte Schuhspitzen, die unter ihrem Kleid hervorschauten. Verdammt, sie trug noch immer ihre schmutzverkrusteten Schuhe, die sie zur Gartenarbeit angezogen hatte, anstatt ihre bestickten und dem Anlass angemessenen Pantoffeln. Sie hatte ganz einfach nicht daran gedacht.
Rasch machte sie einen Schritt nach links, sodass ihre Füße hinter dem Thron verschwanden, was ihr eine hochgezogene Braue des Ritters eintrug. Blossom spürte, wie ihr vor Verlegenheit das Blut in die Wangen schoss. Rasch senkte sie den Kopf, in der Hoffnung, dass niemand ihr Erröten bemerkte.
»König Brenin ist nun bereit, Euer Anliegen zu vernehmen«, verkündete der Zeremonienmeister und ließ seinen Stab erneut auf den Marmorboden knallen, um die Aufmerksamkeit aller zu erlangen. »Tretet vor, Sir Púrén, und sprecht nun.«
Ein älterer Herr mit weißem Bart, der in ein rotes Gewand gekleidet war, löste sich von der Gruppe der Abgesandten und trat vor. Elegant verneigte er sich vor seinem Herrscher, ehe er sich wieder aufrichtete. Den Blick hielt er zu Ehren des Königs jedoch weiterhin gesenkt.
»Eure Majestät«, begann er, »wir sind den weiten Weg aus Tulpenland gekommen, um Eure Hilfe zu erbitten.«
»Mir wurde zugetragen, es ginge um Handelsvereinbarungen und nicht um ein Bittgesuch«, erwiderte der König, und Strenge schlich sich in seine Stimme.
»Im weitesten Sinne«, sagte Sir Púrén ausweichend.
»Und im wahren Sinne?«
»Unser Land stirbt«, stieß der Mann hervor.
»Es stirbt?«, entfuhr es der überraschten Blossom, was ihr einen tadelnden Blick ihres Vaters einbrachte.
»Sagt, was meint Ihr damit?«, verlangte König Brenin zu wissen.
»Alle Pflanzen verdorren. Bäume verlieren ihr Laub, als würden sie sich auf eine Winterruhe einstellen, die es bei uns nicht gibt. Äste brechen wie trockenes Reisig. Wir tun alles, was wir können, doch nichts hilft. Es ist, als läge ein Fluch auf Tulpenland.« Sir Púrén schien mit einem Mal um ein weiteres Jahrzehnt gealtert zu sein. Blossom konnte die tiefe Sorge um sein Land in seinem Gesicht ablesen und empfand tiefes Mitgefühl für ihn und sein ganzes Fürstentum.
»Dann scheint Ihr nicht genug zu tun«, tadelte ihr Vater.
»Eure Majestät …«
»Ich will kein Jammern hören, sondern wissen, was Ihr zu tun gedenkt!«
Erschrocken über den Jähzorn des Königs, wich der Abgesandte zurück.
»Es gibt nichts, was wir noch tun könnten«, erwiderte er furchtsam. »Alles, was in unserer Macht steht, haben wir versucht. Selbst unsere Magier wissen nicht weiter. Deshalb kamen wir hierher, um Eure Hilfe zu erbitten.«
»Wo ist der Souverän von Tulpenland?«, wollte König Brenin wissen.
»Unser Regent ist verhindert und versucht seinen Untertanen in dieser dunklen Stunde beizustehen, so gut er nur kann«, verteidigte Sir Púrén seinen Fürsten.
»Da Ihr mir nicht bieten könnt, was Ihr vorgegeben habt, als Ihr um eine Anhörung batet, erkläre ich diese Audienz für beendet.«
»Aber, Eure Majestät …«
»Ich sagte: Die Audienz ist beendet.«
»Ihr spracht von einem Fluch, Sir Púrén.« Rasch trat Blossom vor. »Was meintet Ihr damit?«
»Blossom …«, setzte ihr Vater an, sie zu rügen, doch sie ignorierte ihn und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Abgesandten.
»Das ist wahr, das tat ich.« Der alte Mann warf ihr einen dankbaren Blick zu. Wie hätte er wissen sollen, dass die Prinzessin sich bereits innerlich für eine Strafpredigt wappnete, die ihr Vater ihr mit Sicherheit erteilen würde, sobald sie allein waren?
»Bitte, erzählt mir davon.«
»Wir schickten unsere Magier aus, um zu erkunden, was der Grund für das Sterben sein mag«, berichtete Sir Púrén. »Sie fanden heraus, dass schwarzmagische Zeichen über dem Land liegen, die auf einen Fluch hindeuten.«
»Was für Zeichen?«
»Baumrunen. Worte einer alten, vergessenen Sprache, die in Baumrinde geschnitten wurden. Papier, mit seltsamen Symbolen bemalt, das mit Fäden an Zweige gebunden wurde.«
»Habt Ihr etwas davon mitgebracht?«, wollte Blossom wissen.
Sir Púrén nickte und gab einem seiner Begleiter ein Zeichen. Dieser zog ein paar Blatt Papier aus einer ledernen Tasche und reichte sie an die Prinzessin weiter.
Nachdenklich betrachtete Blossom die Zeichnungen. Seltsame Muster und Linien bedeckten die Seiten. Unverständliche Worte waren dazwischen niedergeschrieben.
»Bitte, berichtet weiter, was Eure Magier herausgefunden haben«, bat sie.
»Sie können sich vieles nicht erklären. Doch sie haben eine Vermutung …« Der alte Mann stockte.
»Was vermuten sie?«, hakte Blossom nach.
»Dass die Zauberin Thyria unser Land mit diesem Fluch belegt hat.«
Ein aufgeregtes Raunen erhob sich. Manche klangen besorgt, andere erbost und schimpften Sir Púrén einen Lügner.
»Wie sollte das möglich sein?«, fuhr König Brenin dazwischen. »Die Zauberin wurde vor drei Generationen aus Frühling verbannt. Vom Bruder meines Großvaters. Sie kann wohl nach der langen Zeit kaum noch am Leben sein.«
»Schwarze Magie kann einer Person ein unnatürlich langes Leben bescheren, Eure Majestät«, widersprach jemand aus dem Hintergrund.
Der Bibliothekar Tosho trat hinter einer der Säulen hervor. Er war jung und athletisch, nicht alt und gebeugt, wie man es von jemandem erwarten würde, der seine Tage an einem Schreibpult zwischen Bücherregalen verbrachte. Trotz seiner Jugend wusste er mehr als so mancher alte Bibliothekar.
Blossom war zusammen mit Tosho aufgewachsen. Von ihm hatte sie heimlich all die Bücher über Pflanzenkunde und Gärtnerei erhalten, die sie so liebte. Er ließ sie Romane lesen, Legenden und Sagen, die ihr sonst verwehrt geblieben wären.
»Du glaubst also, Bibliothekar, dass diese vermaledeite Zauberin es wagt, sich königlichem Willen zu widersetzen?«, fragte ihr Vater gereizt.
»So sie denn noch lebt, wäre es durchaus denkbar.«
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