Für meine Mutter –
von ihr habe ich meine Liebe zu Worten und Büchern.
Ich wünschte, sie wäre noch bei mir.
Es war einmal eine Prinzessin,
geboren in einem Land bedeckt von Eis und Schnee,
mit einem mutigen Herzen und reiner Seele.
Eine selbstlose Tat,
gewirkt mit kristallklarer Magie,
bringt hervor eine Veränderung für
das Königreich Winter.
Auferstehen wird dadurch eine Gefahr für das Land
und die Menschen,
die in ihm leben.
Die Bedrohung niederringen kann nur die Eine,
die hervorgebracht,
was nun geschieht.
Gelingt ihr dies nicht,
wird herrschen ewige Nacht und tödliche Kälte
für alle Zeit …
Beginnen Märchen nicht stets mit: Es war einmal … ? Nun, dann soll jene Geschichte auf diese Weise beginnen:
Es war einmal vor langer Zeit im Königreich Winter …
So dunkel. Wieso war es nur so dunkel? Und diese flüsternden, raunenden Stimmen um sie herum, die von allen Seiten zu kommen schienen.
Schwerfällig öffnete Jorinda die Augen. Sie war so müde, als entzöge ihr etwas die Kraft. Sie förmlich aus ihr heraussaugen. Nur mit Anstrengung gelang es ihr, den Kopf zu drehen und sich umzuschauen. Verschwommen nahm sie Schemen wahr, die in einem Kreis um sie herumstanden. Gekleidet in lange schwarze Kutten, die Gesichter durch Kapuzen verdeckt. Es kostete sie einige Kraft, sich auf die Seite zu drehen und sich aufzurichten.
Wo war sie? Wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich an einen kleinen Stich im Nacken, bevor alles um sie herum schwarz geworden war. Hatte man sie betäubt und entführt? Wer wagte es, sich gegen sie aufzulehnen? Sie, die erhabene Herrscherin über alles Leben in Winter. Zorn flammte in ihr auf und verlieh ihr neue Kraft. Schwankend kam sie auf die Füße. In ihren Augen spiegelten sich die Flammen wider, die hinter dem Kreis aus Menschen züngelten. Genauso brennend wie das Feuer loderte auch der Hass in ihrem Inneren.
»Ihr wagt es, euch gegen mich zu stellen?«, schrie sie erbost.
Das Murmeln der Stimmen wurde lauter und Jorinda verstand schließlich die Worte. Es waren uralte Beschwörungsformeln. Dazu gedacht, das Böse zu bannen und für ewig zu binden. Wütend drehte sie sich und versuchte jeden einzelnen der vermummten Gestalten zu erkennen, doch ihre Gesichter waren verborgen unter den Kapuzen der Kutten. Magische Symbole, die Schutz bieten sollten, waren auf ihre Hände gemalt.
Schließlich trat eine Person vor, enthüllte ihr Gesicht und sah Jorinda schweigend an.
»Ich kenne dich«, rief sie. »Du bist Meister Lotan. Der Lehrer meiner Schwester.«
»Prinzessin Jorinda, Verräterin an Winter«, sagte der Mann mit ruhiger, getragener Stimme, »du bist hier, weil du verurteilt wurdest für deine Verbrechen, die du gegen das Volk von Winter begangen hast. Für die Ermordung vieler Unschuldiger, für das Leid, welches du verursacht und über die Menschen gebracht hast.«
Sie lachte. Dieser klägliche Haufen wollte sie bestrafen? Sollten sie es doch versuchen. Sie war zu mächtig, als dass es ihnen gelingen könnte. Sie war die Schneekönigin. Die einzig wahre Herrscherin über Winter. Niemand konnte ihr das streitig machen.
Ihr Zorn steigerte sich weiter. Ein wütender Schneesturm wallte auf, doch er konnte die schützende Barriere, die diese in Kutten gekleideten Gestalten umgab, nicht durchdringen. In ihrer Entrüstung schleuderte sie Geschosse aus Eis auf Meister Lotan, der keinen Schritt wich, denn nicht einer dieser Eispfeile erreichte ihn. Sie zerbarsten im Flug in Tausende kleiner Stücke, die auf den Boden rieselten und keinen Schaden anrichteten.
»Hör mir zu, Schneekönigin«, gebot Meister Lotan, »denn die Nachricht, die ich für dich habe, ist von großer Bedeutung: Wir haben ein Urteil über dein Schicksal gefällt.«
Hass flammte in den Augen der Schneekönigin auf. »Ihr könnt mich nicht besiegen!«, raste sie vor Zorn.
»Gemeinsam sind wir stärker als du«, erwiderte der Magier ungerührt. »Nun höre, was ich zu sagen habe: Du wirst in die tiefste Tiefe eines Berges geschickt, gefangen in todesähnlichem Schlaf. Niemand kann zu dir gelangen. Du wirst Winter und all seine Menschen vergessen.«
Wütend kreischte die Schneekönigin und ihr sonst so schönes Gesicht war zu einer abstoßenden Fratze verzogen.
»Du hast genug Leid und Tod über dieses Königreich gebracht. Nun erhältst du die gerechte Strafe für all deine Taten, sodass in Winter das Glück wieder Einzug hält.«
»Das könnt ihr nicht tun«, schrie die Schneekönigin. In ihre Rage mischten sich Entsetzen und Verzweiflung, als sie einen magischen Sog spürte, der an ihr zerrte. »Selbst wenn ihr mich fortschickt, werde ich eines Tages zurückkehren, und meine Rache wird ohne Gnade sein.«
»Wir verbannen dich«, vernahm sie noch einmal Meister Lotans Worte. »Fortan wirst du keine Bedrohung mehr für dieses Königreich sein. Du sollst zu einer Mär verblassen, weil die Menschen beginnen werden, dich zu vergessen.«
Der Sog wurde stärker und stärker. Als sie auf ihre Hände sah, waren sie durchscheinend wie Glas. Finger für Finger, Gliedmaße für Gliedmaße löste sie sich auf. Wurde fortgetragen, gar gezerrt, von einer Macht, der sie nichts entgegenzusetzen vermochte.
»Das dürft ihr nicht tun!«, kreischte die Schneekönigin erneut, und Angst mischte sich in ihre schrille Stimme. Für einen winzigen Augenblick war die gutherzige, liebevolle Prinzessin zu erkennen, die sie einst gewesen war.
»Wir können und wir werden zu Ende führen, was wir begonnen haben«, erwiderte Meister Lotan und blickte ihr ruhig in die Augen. »Ohne Gnade. So wie auch du ohne Erbarmen warst.«
Die Stimmen um sie herum schwollen an.
Dann wurde sie in die Schwärze gesogen, und Stille senkte sich über sie.
***
Es war so dunkel. So still. Kein Laut drang an ihr Ohr. Kein Licht an ihre Augen. Sie schwebte durch das Nichts und die Dunkelheit.
Wie lange hatte sie geschlafen? Wie lange war sie schon fort aus Winter?
Etwas hatte sie geweckt. Ja, es war das Schreien eines neugeborenen Kindes. Eines Kindes, welches dasselbe Blut in seinen Adern hatte wie sie. Eines, das Hoffnung auf Freiheit für sie barg. Auf Vergeltung.
Noch musste dieses Kind wachsen. Doch eines Tages würde es sie befreien. Bis zu diesem Moment plante sie ihre Rache, die wie ein Schneesturm über das Land und seine Menschen fegen würde.
Ein grausames Lächeln umspielte den Mund der bösen Schneekönigin.
***
15 Jahre später
»Wir müssen etwas tun«, sagte eine männliche Stimme drängend. »Die Magie erwacht in ihr.«
»Seid Ihr Euch dessen sicher? Gut, ich spüre auch etwas, doch es erscheint mir keine wirkliche Bedrohung zu sein. Warum sprecht Ihr keinen neuen Bann?«
»Das können wir nicht. Die Versiegelung ihrer magischen Kräfte kann nicht erneuert werden. Das letzte Mal hat es uns all unsere Kraft gekostet. Wir können den Zauber nicht erneut sprechen. Es wäre zu gefährlich. Damit würden wir riskieren, dass ihre Magie durch einen Riss in der Barriere entweichen kann, wenn wir nicht schnell genug agieren, Regentin. Ihr wisst, was das für unsere Zukunft bedeuten würde: Ihre Magie würde wirken und die Schneekönigin zurückkehren«, erwiderte der Mönch. »Womöglich ist es an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen, anstatt sie in dem Glauben zu lassen, die Prophezeiung sei zwar gefährlich, könne aber nicht eintreten.«
»Sie hat ihr Leben lang mit dem Wissen gelebt, dass sie eine Gefahr für das Königreich darstellt. Weil wir nicht wussten, wann und ob sich ihre Magie Bahn bricht.« Die Regentin atmete tief durch. »Ich hoffe, der Unterdrückungszauber wird auch zukünftig halten. Bemüht Euch wie ich um Zuversicht. Das ist es, was ich zu tun gedenke.«
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