Kaitlin Spencer
Autumn
Jahreszeiten-Märchen
Für Sabrina Z.
Es war einmal eine Prinzessin,
geboren mit der Gabe, den Tod vorauszusehen.
Zu retten, was gerettet werden muss:
Der Hoffnung winziges Pflänzchen.
Solange der Ahorn noch besitzt
ein goldenes Blatt,
das Königreich Herbst Hoffnung hat.
Fällt herab das letzte Laub,
Herbst wird versinken im ewigen Winter,
hoffnungslos.
Es war einmal…
… vor langer Zeit. Als die Jahreszeitenkönigreiche erschaffen wurden von der Magie der Märchen, begannen die Jahreszeiten und all das Leben darin. Doch eines der Reiche verharrte am Rande der Vergänglichkeit, und so schuf ein mächtiger Magier – berufen von der Magie selbst – ein Geschenk: einen goldenen Ahornbaum der Hoffnung. Diesen Lebensbaum überreichte er dem Königreich Herbst, um es vor dem Untergang zu beschützen, der alle anderen Jahreszeiten mit sich reißen würde in die Vergänglichkeit. So wuchs das Reich. Der Handel blühte und die Menschen waren zufrieden. Das Leben endete nicht in einem langen Schlummer und wurde zum Winter, sondern bestand fort, und so taten es alle Jahreszeiten mit ihm.
Jeden Morgen ging die Sonne auf und jeden Abend machte sie dem Mond Platz. So verging die Zeit. Tag folgte auf Tag, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr.
Doch eine Prophezeiung sagte, würde der Ahornbaum mit dem Namen Marnas Dòrchas eines Tages seinen Platz verlassen, würde das Sterben beginnen. Denn nur an dem Ort, an den der Magier ihn vor all der Zeit gesetzt hatte, würde der Lebensbaum gedeihen, als Quelle seiner Lebenskraft, und das Königreich Herbst beschützen.
Nach und nach geriet der Baum in Vergessenheit, nur wenige konnten sich daran erinnern. Und einer von ihnen begann einen fürchterlichen Plan zu schmieden …
Kapitel 1
Leavia Autumn lief den mit Fackeln beleuchteten Gang der königlichen Burg entlang und versuchte dabei nicht über die Röcke ihres Kleides zu stolpern, die sich ständig um ihre Beine zu wickeln drohten.
Sie war viel zu spät dran, um noch pünktlich zur wöchentlichen königlichen Audienz zu erscheinen, bei der ihr Vater ihre Anwesenheit wünschte. Nein, eigentlich bestand er darauf, dass sie bei diesen Audienzen zugegen war, in denen er sich die Klagen und Beschwerden seiner Bürger anhörte und bei Streitigkeiten und Verbrechen Recht sprach. Er galt als strenger, aber gerechter König, der jedoch Härte walten ließ, wenn er dies für nötig erachtete. Als Vater konnte er unerbittlich sein, sodass sich Leavia gelegentlich wünschte, als Tochter eines anderen Mannes geboren worden zu sein. Aber alles Klagen half nicht. Sie war nun einmal die Prinzessin von Herbst, die sich im Augenblick für den Zorn ihres Vaters über ihr Zuspätkommen wappnete. Unpünktlichkeit wurde nicht toleriert. Dabei konnte Leavia dieses Mal nun wirklich nichts dafür. Ihre Zofe hatte versehentlich das Kleid zerrissen, das sie hatte tragen wollen. Adna blieb damit an einem Haken am Pfosten des Bettes hängen, an dem der Baldachin befestigt war. Als Leavia das Reißen des Stoffes hörte und Adnas entsetztes Gesicht sah, wusste sie, dass dieser Tag nicht gut anfing.
Da der Riss auf die Schnelle nicht zu nähen war, musste ein anderes Kleid her. Doch in aller Eile ein passendes Gewand für die königliche Audienz zu finden, erwies sich als weitaus schwieriger als erwartet. Schließlich entschied sich Leavia für ein dunkelrotes Kleid mit goldener Stickerei, das gut zu ihrem dunklen Haar und den grünen Augen passte. Schnell hatte Adna ihr die Locken noch zu einem losen Knoten im Nacken festgesteckt, als sie auch schon davoneilte. In der ganzen Hektik vergaß Leavia allerdings ihre Handschuhe in ihrem Zimmer, wo sie fein säuberlich auf dem Bett bereitlagen. Unter normalen Umständen wäre sie zurückgelaufen, um sie zu holen, doch da sie bereits viel zu spät dran war und sich nicht noch größeren Ärger mit ihrem Vater einhandeln wollte, beließ sie es dabei. Sie würde diese Audienz wohl ohne sie ertragen müssen.
Als sie hastig den Thronsaal betrat, waren sowohl ihr Vater wie auch die eingeladenen Handelspartner aus verschiedenen Regionen des Königreiches Herbst bereits da. Leavia drückte sich so unauffällig wie möglich hinter den Anwesenden vorbei, immer dicht an der Wand entlang, um zum Thron zu gelangen, auf dem sich ihr Vater bereits niedergelassen hatte. Der mit rotem Samt bezogene Sessel neben ihm war leer, denn ihre Mutter würde heute nicht anwesend sein.
Ihr Platz war wie immer hinter ihrem Vater, und so schlich Leavia mit gesenktem Kopf dorthin.
Während sie unauffällig zwischen Mauer und Anwesenden hindurchhuschte, versteckte sie ihre Hände in den Falten ihres Rockes, um nicht Gefahr zu laufen, jemanden versehentlich zu berühren.
Seit sie ein kleines Kind war und begriffen hatte, was für eine Gabe sie besaß, versuchte sie jeglichen Hautkontakt mit anderen zu vermeiden. Selbst ihre Kinderfrau war dazu angehalten gewesen, sie nicht ohne Handschuhe anzufassen. Wenn jemand diese Anweisung vergaß oder sich gar absichtlich nicht daran hielt, wurde derjenige hart bestraft. Ihr Vater hatte das klägliche Weinen seiner kleinen Tochter nicht ertragen. Nicht weil er Mitgefühl für sie empfunden hätte, sondern weil er sich von ihrem Schluchzen gestört fühlte, das durch den Palast hallte. Besonders bei einer Partie royalem Herbstschach, die er zu gewinnen gedachte. Der König vermied ohnehin meist den Kontakt mit ihr, mit Ausnahme von Veranstaltungen wie diesen oder anderen repräsentativen Anlässen, bei denen ihre Anwesenheit unerlässlich war. Ihr Vater glaubte, dass Audienzen für sie lehrreich seien, was Verhandlungsführung und erhabenes Auftreten anbelangte.
Leavias Mutter hielt sich dagegen meist in ihren Gemächern auf, wo bis auf einer Dienerin und der Zofe Gertrud niemandem der Zutritt gestattet war, es sei denn, sie verlangte ausdrücklich danach.
Als Leavia gelernt hatte, sich klar zu den Dingen zu äußern, und detailliert davon erzählen konnte, was geschah, wenn sie jemanden berührte, hielten die Menschen noch mehr Abstand zu ihr als zuvor. Davor hatten alle um sie herum ihr Weinen und Jammern für die Folge einer blühenden kleinkindlichen Fantasie gehalten.
Sie war vier, als sie das erste Mal zu jemandem sagte, wann dieser sterben würde und welch schmutzige Gedanken er in seinem Kopf beherbergte.
Die Prinzessin war ein einsames Kind gewesen. Meist hatte sie allein in ihren Räumlichkeiten gespielt, gelesen oder musiziert. Manchmal war sie in den Stallungen bei den Pferden zu finden oder wanderte durch die Park- und Gartenanlagen des Schlosses. Tiere oder Pflanzen zu berühren, war nie ein Problem für sie gewesen, auch wenn sie voller Leben steckten. Mit ihnen spürte sie eine tiefe Verbundenheit. Eine Vertrautheit und Zuneigung, die sie Menschen nur schwer entgegenbringen konnte. Tiere waren die einzigen Geschöpfe, deren Tod sie nicht sehen und deren Gedanken sie nicht lesen konnte.
Als der Hofmeister dreimal mit seinem Zeremonienstab auf den Boden klopfte, um die Aufmerksamkeit aller Gäste zu gewinnen, riss er damit auch Leavia aus ihren Gedanken.
»Ihre Majestät König Pren wird nun allen Anliegen Gehör schenken«, verkündete der Seneschall.
Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und hob den Kopf, so wie man es sie gelehrt hatte, wie sich eine Prinzessin bei offiziellen Anlässen zu benehmen hatte. Obwohl man ihr alles an höfischer Etikette beibrachte, was es zu lernen gab, war sie im direkten Umgang mit Menschen ungeübt. Da sich die meisten vor ihr und ihrer düsteren Gabe fürchteten, mied man sie. Es bekümmerte sie zwar, doch gleichzeitig verstand sie es auch. Ihr selbst wäre es wohl nicht anders ergangen.
Einzig ihre alte Dienerin Mod, die im vergangenen Winter gestorben war, hatte sich für sie interessiert. Ihr konnte sie erzählen, was sie beschäftigte oder worüber sie sich sorgte. Als es schließlich Zeit für sie war, in den Ruhestand zu gehen, hatte Mod sie gebeten, ihre Hand zu nehmen und den Tod vorauszusagen. Leavia war dankbar, als sie ihr mitteilen konnte, dass sie im Schlaf sterben würde. Die alte Frau hatte sie daraufhin mit Tränen in den Augen in den Arm genommen und ihr gedankt. Es war das erste Mal, dass dies jemand tat.
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