Rasch wusch sich Leavia, kleidete sich an und machte sich auf den Weg zum Archiv, das in einem kleinen Seitengebäude hinter dem Nordflügel untergebracht war. Dicht an die Schutzmauer gedrängt, die das riesige Schlossgelände umgab, und vollgestopft mit Büchern und Schriften sowie den Chroniken des Königreiches, die weit in die Zeit zurückreichten.
Als sie auf ihrem Weg am Gewölbe von Marnas Dòrchas vorbeiging, überkam sie dasselbe merkwürdige Gefühl wie am Abend zuvor. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie änderte die Richtung und eilte dorthin, wo der Lebensbaum aufbewahrt wurde. Je näher sie kam, desto stärker wurde die warnende Empfindung.
Sie lief die Stufen zum Gewölbe hinunter und stieß die schwere Tür mit aller Kraft auf. Atemlos blieb sie stehen und starrte die Säule in der Mitte der unterirdischen Kuppel an. Sie schlug entsetzt eine Hand vor den Mund. Der goldene Ahorn war – verschwunden. Die Stelle, an der er über all die Zeit gestanden hatte, war leer. Nur die Glaskuppel, die ihn stets vor allen Einflüssen geschützt hatte, war zurückgeblieben und lag auf dem Boden neben der Säule.
Das durfte nicht sein! Verzweifelt durchsuchte sie die Krypta, schaute in jede Nische und jeden Winkel, doch der Baum war nirgendwo.
Rasch eilte sie hinaus in den Korridor.
»Wachen«, rief sie, denn sie wusste, dass sich immer welche in der Nähe des heiligen Artefakts von Herbst befanden. Und sie täuschte sich nicht, denn aus den Schatten traten zwei Soldaten, die sich zuvor verborgen gehalten hatten.
»Hoheit«, sagte der eine von ihnen und verbeugte sich mit einer Hand auf dem Schwertknauf vor ihr. Bereit, die Prinzessin zu verteidigen. »Was können wir für Euch tun?«
»Jemand hat den Lebensbaum gestohlen!«, stieß sie hervor.
Die Wächter sahen sich überrascht an. »Ihr meint, Marnas Dòrchas ist nicht an seinem Platz? Das ist unmöglich!«
»Ich täusche mich nicht. Geh und sieh selbst, Leutnant«, forderte sie ihn auf.
Der Mann eilte in die Krypta, während der andere Soldat bei ihr blieb und alles wachsam im Auge behielt.
»Warum haben die Wachen, die zuvor Dienst getan haben, nicht bemerkt, dass Marnas Dòrchas fortgebracht wurde?« Steckten sie etwa mit dem Dieb unter einer Decke? Leavia mochte nicht daran glauben, doch von der Hand weisen konnte sie den Verdacht dennoch nicht.
»Das kann ich nicht sagen, Hoheit«, erwiderte der Soldat, der immer noch neben ihr stand.
Das Verschwinden des goldenen Ahorns war eine Katastrophe. Was hatte das zu bedeuten? Wer tat so etwas?
Kerem. Der Name schoss ihr in den Kopf. Er hatte sich merkwürdig verhalten, nachdem sie vom Hoffnungsbaum gesprochen hatte. Konnte es sein, dass er …? Ihr Herz mochte es nicht glauben, nachdem sie ihm in die Augen geblickt hatte, aber ihr Verstand sagte etwas anderes; er spielte tatsächlich mit der Möglichkeit, dass er der Dieb sein könnte.
»Ich muss gehen«, sagte sie unvermittelt. »Mein Vater muss erfahren, was geschehen ist.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, lief sie den langen Korridor entlang. Die überraschten Blicke des Wachpostens konnte sie förmlich in ihrem Rücken spüren.
Sie musste Kerem finden und ihn zur Rede stellen. Musste erfahren, ob er etwas damit zu tun hatte. Sie wünschte sich so sehr, dass ihr Herz recht hatte. Da war etwas in seinen Augen. Ein Bedauern. Schmerz. Genau konnte sie es nicht bestimmen.
Sie rannte förmlich zum Gästetrakt des Schlosses, immer darauf bedacht, sich nicht im Rock ihres Kleides zu verfangen und zu stolpern. Es war nur eine vage Vermutung, die sie dorthin trieb. Und sie hoffte, dass sie ihn dort finden würde.
Als sie das Gebäude mit den Gästegemächern betrat, blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Doch sie musste nicht an jede Tür klopfen auf der Suche nach ihm, denn Kerem kam gerade die breite Steintreppe herunter. Leavia stürzte auf ihn zu und stellte sich ihm in den Weg.
»Wart Ihr es?«, forderte sie zu wissen.
Überrascht blickte er sie an. »Wovon sprecht Ihr?«
»Von Marnas Dòrchas, dem Lebensbaum. Der Quelle der Hoffnung im Königreich Herbst. Er ist verschwunden!«
»Was meint Ihr damit: Er ist verschwunden?«, fragte er sichtlich irritiert.
»Er wurde gestohlen.«
»Und Ihr denkt, dass ich es gewesen bin, Eurer Reaktion nach zu urteilen«, vermutete er.
»Wart Ihr es?«
»Was denkt Ihr von mir? Natürlich nicht! Wie kommt Ihr nur auf eine solche Idee?«
»Ihr habt mich danach ausgefragt und dann seid Ihr einfach gegangen. Euer Verhalten war so merkwürdig. Und gewissermaßen verdächtig.«
»Deshalb muss ich es gewesen sein, der Eure wichtigste Reliquie gestohlen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich verärgert oder enttäuscht sein soll. Schmeicheln tut es mir ganz bestimmt nicht.«
»Ihr könnt das nicht verstehen. Dieser goldene Ahorn ist praktisch das Herz, das dieses Königreich am Leben erhält!«
»Das verstehe ich durchaus. Dennoch habe ich ihn nicht entwendet.«
»Wie kann ich Euch nur glauben?«, fragte sie.
»Das müsst Ihr mit Euch selbst ausmachen«, erwiderte er distanziert. »Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss zu Legat Horan, der mich erwartet.«
Ohne Gruß drängte er sich an ihr vorbei.
»Kerem.«
Er blieb stehen, wandte sich zu ihr um und sah sie an.
»Wenn Ihr es nicht wart, wer war es dann?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er, und ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass es nur die halbe Wahrheit war.
Dann ließ sie ihn gehen.
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