Sie hatte nur einen wirklichen Freund, den sie hin und wieder im Wald besuchte, wann immer es ihr möglich war, sich ungesehen aus dem Schloss zu schleichen. Sie hatte Ræv gefunden, als er ein kleiner, ausgehungerter Fuchswelpe war. Während einer ihrer Streifzüge in den mauerumgrenzten Parkanlagen des Schlosses, in denen es kleine Haine gab, hatte sie ihn unter einer Buche entdeckt. Seine Mutter war bei einer Treibjagd getötet worden, die vom Wald bis in einen Buchenhain geführt hatte. Etwas, das Leavia verabscheute wie jegliches Töten von Tieren. Ræv war erst ein paar Wochen alt gewesen, als sie ihn fand. Heimlich hatte sie ihn in den Palast geschmuggelt, ihn gefüttert und gehegt, bis er groß genug war, um in die Wildnis des Waldes zurückzukehren. Schwach war er gewesen, als sie auf ihn stieß, doch als Leavia ihn berührt hatte, spürte sie seinen Lebenswillen: stark und ungebrochen. Sie konnte ihn nicht sterben lassen. Niemals. Und so war aus ihnen ein Paar ungleicher Freunde geworden.
Vielleicht konnte sie ihn später besuchen, sobald die Audienz zu Ende war. Wie schön wäre es, mit den Fingern durch sein dichtes, glänzendes Fell zu streichen. Dies wirkte immer sehr beruhigend auf sie.
»Eure Majestät, glaubt Ihr wirklich, dass es der richtige Weg ist, Handelsbeziehungen mit Königreichen zu knüpfen, die weit entfernt von jenen der Jahreszeiten liegen? Sollten wir nicht erst einmal versuchen, unsere Verbindungen zu Frühling, Sommer und Winter zu verbessern, bevor wir einen solchen Weg einschlagen?«, fragte der Minister für Handel aufgebracht und mit sich beinahe überschlagender Stimme.
Auch ohne ihn zu berühren, konnte Leavia seine Gedanken lesen, die ihm förmlich im Gesicht geschrieben standen. Er hatte Angst. Wovor, das konnte sie nur raten. Aber die Vermutung lag nahe, dass er befürchtete, keine so hohen Zahlungen von den entlegenen Königreichen zu bekommen. Dieser Mann war ein kleiner, geldgieriger Wicht, dem die Menschen egal waren, solange er sich nur seinen Wanst vollschlagen und jede Menge Klunker tragen konnte. Jeder sollte sehen, wie reich er war. Seine eigene Großmutter würde er verkaufen, wenn es entsprechenden Gewinn versprach. Das wusste Leavia genau, denn ein einziges Mal war sie unvorsichtig gewesen und hatte den Minister berührt. Dabei las sie seine Gedanken und erkannte den dunklen Teil seiner Krämerseele. Jedoch würde er sich nicht mehr lange an seinem zusammengerafften Reichtum erfreuen können, denn in Kürze würde ihn ein grausamer Tod ereilen. Auch das hatte sie gesehen, als sie ihn berührte.
Dies war der düstere Aspekt ihrer Gabe: Sie sah, wie und wann die Menschen starben, sobald sie in Kontakt mit deren Haut kam. Jedes noch so kleine Detail ihres Todes.
»Die Länder jenseits der Jahreszeiten-Königreiche sind reich an Ressourcen, die wir für uns nutzen können«, erwiderte König Pren mit scharfem Ton. »Zum Wohle von Herbst werden wir uns um Handelsbeziehungen bemühen. Wir produzieren in großem Umfang Wolle und Stoffe, doch wir benötigen Rohstoffe wie Erze, zudem Lebensmittel und Gewürze, die wir selbst nicht produzieren können. Wir sind nur ein kleines Königreich und brauchen die Unterstützung von größeren Reichen.«
»Es sind Barbaren!«, protestierte der Minister. »Ihnen kann man nicht vertrauen.«
»Woher wollt Ihr das wissen? Ihr kennt diese Menschen doch gar nicht!« Die Worte waren Leavias Mund entschlüpft, bevor sie es verhindern konnte. Rasch senkte sie den Blick, konnte spüren, wie alle Anwesenden sie anstarrten. Immerhin hatte sie es gewagt, einem der Minister zu widersprechen, auch wenn dieser gänzlich im Unrecht war. Dennoch war es ihr gutes Recht als Prinzessin, dachte sie trotzig. Lehrte man nicht jede Prinzessin, sich gegen Ungerechtigkeit zu behaupten und sich für andere einzusetzen, als Teil dessen, einmal Königin zu sein und gerecht über das Reich zu herrschen? Also würde sie nun für diese Männer eintreten und sich nicht von dem Minister einschüchtern lassen. So wie man es ihr im Unterricht zum Thema der königlichen Etikette beigebracht hatte.
»Prinzessin, ich kenne den Ruf dieser Menschen«, erklärte der Minister in arrogantem Tonfall und warf ihr ein triumphierendes Lächeln zu, denn es schien ihm Freude zu bereiten, sie vor allen Anwesenden bloßzustellen. »Mehr brauche ich darüber nicht zu wissen. Vielleicht solltet Ihr Euch lieber darum bemühen, ein Tuch mit hübschen Blättern zu besticken, anstatt Euch in Politik einzumischen, von der Ihr als Frau keine Ahnung habt!«
Dieser … Leavia biss verärgert die Zähne zusammen.
»Und Ihr, Minister, scheint zu vergessen, mit wem Ihr sprecht. Hütet besser Eure Zunge, wenn Ihr Euren Kopf auf dem Hals behalten wollt«, drohte der König.
»Natürlich, Majestät.«
Sie konnte den unterwürfigen Tonfall in seiner Stimme hören. Selbstverständlich würde er sich für seine Beleidigung nicht bei ihr entschuldigen. Unter ihren langen Wimpern hervor warf sie dem Mann einen Blick zu. Sie konnte den unzufriedenen Ausdruck in seinem feisten Gesicht sehen. Die Rüge des Königs gefiel ihm wohl nicht. Wütend hatte er die fleischigen Lippen aufeinandergepresst, bis sie einem schmalen Strich glichen. Nie würde sie dem Minister auch nur einen Funken Sympathie entgegenbringen.
Sosehr ihr diese Audienzen auch widerstrebten, sie lernte viel über die Handelsbeziehungen zu anderen Reichen der Jahreszeiten. Eines Tages, in ferner Zukunft, würde sie dieses Wissen gebrauchen können, um Herbst eine gute Königin zu sein. Falls sich ihr Vater dazu entschließen konnte, sie trotz ihrer finsteren Gabe zur Erbin des Thrones zu machen und ihr das Volk anzuvertrauen.
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster und über den Platz, der davorlag. Das Schloss von Herbst war auf einer Anhöhe erbaut, über die man von den Zinnen der Türme aus einen Blick bis hinunter zur Ebene des Flusses Nagare und die dahinterliegenden Wälder hatte. Eingebettet war der Palast von Gärten und Parkanlagen, die von einer großen Mauer umgeben waren. Für Leavia war es ein Ort größter Vertrautheit, wenngleich sie sich immer wünschte weite Reisen zu unternehmen und andere Länder zu sehen, wie das eine Mal, als sie noch ein Kind gewesen war. Damals hatte sie das Königreich Sommer bereisen dürfen. Ihr Vater hatte sie zu einem Staatsbesuch mitgenommen. Das war das schönste Erlebnis, an welches sie sich aus ihrer Kindheit erinnern konnte. Besonders die farbenfrohen Regenbogenrosen waren ihr im Gedächtnis geblieben. Zum Glück gab es keine unliebsamen Vorkommnisse während dieser Zeit, denn sie hatte stets ihre Handschuhe getragen und darauf geachtet, niemanden unabsichtlich zu berühren. Sie konnte sich auch noch gut an die Sonne entsinnen, die stets fröhlich vom Himmel gelacht hatte. Alles um sie herum war so lebendig gewesen. Sommerblumen blühten in den herrlichsten Farben, überall summten Insekten und zwitscherten Vögel. Eine Vielfalt an Flora und Fauna, die Leavia bis dahin nicht gekannt hatte. Und die Menschen waren fröhlich und feierten ausgelassene Feste.
Obwohl die Zeit in Sommer wunderschön war, überkam sie doch irgendwann Heimweh nach Herbst. Sehnsucht nach dem frühmorgendlichen Nebel, der vom Fluss heraufzog. Dem bunten Laub, das in der Sonne leuchtete, und den trockenen Blättern, die bei jedem Schritt unter ihren Füßen raschelten. Sie liebte den Herbstregen und die Stürme, die an den Fenstern rüttelten.
Während sie ihren Gedanken nachhing, beobachtete sie die Menschen um sich herum. Viele von ihnen schienen sich nicht für die Audienz zu interessieren, sondern unterhielten sich leise miteinander. Sie waren wohl gekommen, um gesehen zu werden, wie so viele an diesem Hof.
»Wenn es nichts weiter zu besprechen gibt, erkläre ich diese Audienz nun für beendet«, sagte ihr Vater irgendwann und erhob sich von seinem Thron. Bevor noch jemand etwas erwidern konnte, verließ er den Saal durch einen kleinen Seitenausgang, der nur ihm vorbehalten war.
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